Donnerstag, 18. Dezember 2014

Fröhliche Schweinnachten!

Martin Wagener, Pfarrer der katholischen Kirchengemeinde Maria Himmelskönigin in Klein Söfingen, sitzt in der Wohnküche des Pfarrhauses und genießt bei Kaffee und Kuchen seinen bis auf Weiteres letzten freien Tag. Weihnachten steht vor der Tür, und das bedeutet eine unüberschaubare Menge Mehrarbeit. Auch außerhalb besonderer Festzeiten findet Pfarrer Wagener es oft erstaunlich, wie viel Arbeit so eine kleine Diasporagemeinde machen kann. Normalerweise liest er viermal in der Woche die Messe - sonntags und donnerstags in Klein Söfingen, sonnabends und mittwochs in der kleinen Allerheiligen-Kapelle in Gimmerten, wo die katholische Minderheit der Samtgemeinde, alles in allem gerade mal vier Prozent der Bevölkerung, eine Art Exklave bildet. An den Weihnachtstagen muss aber eine ganze Reihe zusätzlicher Messen gelesen werden, und davor und danach haben sämtliche Kreise und Gruppen der Pfarrei - Chor, Handarbeitskreis, Seniorenkreis, Krabbelgruppe, Jugendgruppe, Männergruppe - ihre weihnachtlichen Aktivitäten, bei denen der Pfarrer sich zumindest mal sehen lassen muss. Und das alles doppelt, in Klein Söfingen und in Gimmerten. Dazu kommen noch diverse nichtkirchliche Veranstaltungen in der Samtgemeinde, bei denen er ebenfalls Präsenz zeigen und seine Kirche repräsentieren muss. 
-- Wenigstens haben die Leute den Anstand, nicht ausgerechnet in der Weihnachtszeit heiraten zu wollen. Dafür wird aber umso eifriger gestorben. Und auch im Beichtstuhl muss Pfarrer Wagener Überstunden schieben, damit seine Schäfchen mit befreitem Gewissen die Geburt des Herrn feiern können. 

Wagener ist erst seit vier Jahren Pfarrer in Klein Söfingen. Er kommt aus dem Oldenburger Münsterland, wo jedes Haus und jeder Hof, jede Kuh und jedes Pferd, jeder Busch und jeder Baum, jeder Stock und jeder Stein katholisch ist - und nun hat es ihn in die tiefste Diaspora verschlagen. Immerhin, so sagt er sich, ist es ein Außenposten der katholischen Welt, den es zu halten gilt. So gesehen hat man ihm eine verantwortungsvolle Aufgabe anvertraut. 

Begründet wurde dieser Außenposten im Jahr 1946, als ein kleines Häuflein Heimatvertriebener aus Schlesien in der Gemeinde ankam - überwiegend Frauen und Kinder, die Männer waren größtenteils gefallen oder in Gefangenschaft. Ihren Pfarrer hatten sie gleich mitgebracht, einen ebenso rundlichen wie energischen Mann namens Knipp, der den Titel eines Geistlichen Rats trug. 
Dass die Schlesier sich gerade in Klein Söfingen niederließen, rührte daher, dass hier ein Bauer namens Ottenkurt einen Teil seiner Ländereien zur Verfügung stellte, um darauf Baracken für die Vertriebenen zu bauen - das war die Geburtsstunde der "Schlesiersiedlung" von Klein Söfingen, in der heute allerdings keine Baracken mehr stehen, sondern anständige Einfamilienhäuser, jedes mit einem kleinen Gemüsegarten. -- Bauer Ottenkurt, der aus der evangelischen Kirche ausgetreten war, erlaubte dem Geistlichen Rat Knipp sogar, in einer ungenutzten Scheune seines Hofes die Heilige Messe zu feiern. Vermutlich wollte er damit vor allem den evangelischen Pastor ärgern, aber das brauchte die Schlesier nicht zu kümmern. Für sie schien es damals - sehr zur Verblüffung der Einheimischen - das Wichtigste auf der Welt zu sein, sonntags die Heilige Messe feiern zu können; sogar wichtiger als Essen und Trinken. (Heutzutage ist das, wie Pfarrer Wagener jeden Sonntag aufs Neue feststellen kann, nicht mehr ganz so.) 

Der umtriebige Geistliche Rat Knipp und der bärbeißige Bauer Ottenkurt waren zwei Männer, die sich gesucht und gefunden zu haben schienen. Ob es stimmt, dass Ottenkurt sich noch auf dem Sterbebett zum Katholizismus bekehrt und von Knipp die Sakramente gespendet bekommen hat, darüber sind die Meinungen bis heute sehr geteilt; sicher ist aber, dass sie enge Freunde wurden und einander halfen, wo sie konnten. Als Anfang der fünfziger Jahre die Brunnen-Schenke, eine noch aus dem 19. Jahrhundert stammende Gastwirtschaft in Klein Söfingen, abbrannte, der 1905 angebaute Tanzsaal aber stehen blieb, setzte Bauer Ottenkurt sich dafür ein, dass der Geistliche Rat Knipp den Saal für seine katholische Gemeinde erwerben konnte, und einige Jahre später wurde der Bau zur Kirche Maria Himmelskönigin geweiht. 

Martin Wagener ist erst der vierte Nachfolger des Geistlichen Rats Knipp. Alle seine Vorgänger sind hier alt geworden, und Wagener stellt sich gern vor, wie sie in ihrer wohl damals schon knapp bemessenen freien Zeit am Schreibtisch des Pfarrhauses mit Blick auf die Schafweide gesessen und im wahrsten Sinne des Wortes Schäfchen gezählt haben. Bestimmt hat jeder von ihnen ein Geistliches Tagebuch voller erbaulicher Betrachtungen über das Landleben geführt. Irgendwo, denkt er, müssen diese Tagebücher doch noch im Hause sein, aber in vier Jahren hat er sie nicht auffinden können. Vielleicht gibt es sie also auch gar nicht. 

Die Türglocke reißt Pfarrer Wagener aus seinen Gedanken, und vor seinem geistigen Auge sieht er den erhofften freien Tag in Rauch aufgehen. Theoretisch könnte es zwar auch bloß der Paketbote sein, der da läutet, aber nein, so viel Glück hat er nicht. Vor der Tür steht Jette, die alte Hauswirtschafterin des benachbarten Bauernhofs von Karsten Klausmüller. Sie ist sichtlich aufgeregt. 
"Herr P'stoor", sagt sie hastig, und Martin Wagener verzichtet darauf, zu betonen, dass seine Amtsbezeichnung korrekt 'Pfarrer' laute. Das ist den Leuten hier nicht beizubringen. "Herr P'stoor, Se müssen zu uns auf den Hof kommen, schnell. Es is ein Notfall." 

Ein Diener Gottes ist immer im Dienst, denkt Pfarrer Wagener mit einer eigentümlichen Mischung aus Resignation und Stolz. Ein rascher Blick in den Spiegel, um das Kollar zu richten; dann holt er den Notfallkoffer aus seinem Arbeitszimmer, wirft sich eine Jacke über, und schon ist er bereit. Er macht sich nicht erst die Mühe, das Fahrrad oder gar das Auto aus der Garage zu holen: Karsten Klausmüllers Hof beginnt gleich jenseits der Schafweide, und auch wenn er außen herum geht, ist es nur ein Fußweg von wenigen Minuten.
Es ist der ehemalige Ottenkurt-Hof, aber jetzt gehört nur noch ein kleiner Teil seiner ehemaligen Ländereien dazu. Dass der alte Ottenkurt anno '46 so bereitwillig Land an die Gemeinde abtrat, damit dort eine Barackensiedlung für die Vertriebenen errichtet werden konnte, hatte wohl auch damit zu tun, dass der Hof schon damals weitgehend heruntergewirtschaftet war und Ottenkurt keinen Erben hatte. Den Großteil des Besitzes haben sich nach seinem Tod die Noltes und die Boltes unter den Nagel gerissen, das Hofgebäude, die Stallungen und ein Stück Kartoffelacker hingegen haben die Klausmüllers übernommen, entfernte Verwandte Ottenkurts. Auf diesem kleinen Resthof betreibt Karsten Klausmüller jetzt Bio-Landwirtschaft. 

Martin Wagener ist etwas irritiert, als die alte Jette ihn nicht ins Wohngebäude des Hofes führt, sondern in den Schweinestall. Dort steht der Bauer, Karsten Klausmüller, angespannt und unbeweglich, einen sorgenvollen Blick auf eine trächtige Sau geheftet, die auf der Seite liegt und erbarmungswürdig schnauft. Auf den Gruß des Pfarrers hin erwacht der Bauer aus seiner Erstarrung. "Herr P'stoor, Gottseidank, dat Se da sünd." 
"Was kann ich für Sie tun?", entgegnet Pfarrer Wagener sachlich. 
Karsten Klausmüller bemüht sich, Hochdeutsch mit dem 'zugezogenen' Pfarrer zu sprechen, aber in der Erregung verfällt er doch immer wieder in sein gewohntes Platt zurück. Was Martin Wagener aus seinen Worten entnehmen kann, ist, dass Klausmüllers Zuchtsau Ferkel bekommen sollte, dass es nun aber Komplikationen gebe; anscheinend habe sich ein Ferkel quer gestellt. Nun hat der Bauer Angst, dass ihm seine Sau verreckt, und schlimmstenfalls die Ferkel gleich mit. 
Der Geistliche findet es nicht schwer einzusehen, dass für einen kleinen Bio-Bauern der Verlust einer Zuchtsau und womöglich auch noch eines ganzen Wurfs Ferkel eine Katastrophe wäre. Dennoch fragt er nüchtern: "Ist das nicht eher ein Fall für den Tierarzt?"
Der habe am anderen Ende der Gemeinde zu tun und könne nicht kommen, erklärt Klausmüller. "Und wenn de Veehdoktor nich hölpt, denn hölpt blots noch de P'stoor. Dat hebb ick vun min' Vadder un' min' Grootvadder lernt." 
"Und was erwarten Sie jetzt von mir?", fragt Wagener etwas beunruhigt. 
Ungeduldig, fast schon verärgert, als finde er diese Frage herzlich überflüssig, entgegnet der Bauer: Segnen solle er das Schwein. Für eine gute Geburt der Ferkel beten. 
Der Pfarrer ist einigermaßen erleichtert, aber einen Einwand hat er doch noch:"Sie sind doch gar nicht katholisch." Er meint es gar nicht unfreundlich, aber kaum hat er diese Worte ausgesprochen, da merkt er, dass sie gleichwohl so wirken könnten. 
Karsten Klausmüller scheint das jedoch gar nicht krumm zu nehmen. "Unsen evangelischen P'stoor mokt sowat nich' ", erklärt er. "De seggt, dat is Aberglauben." 

Der Pfarrer nickt und macht sich ohne weitere Umstände an die Arbeit. Er öffnet seinen Notfallkoffer, nimmt die violette Stola heraus, die zusammengefaltet gleich zuoberst liegt, und legt sie sich um den Hals, außerdem entnimmt er dem Koffer noch ein Buch und einen eigentümlich geformten Metallgegenstand, ein Taschenaspergill zum Verspritzen von Weihwasser. Er schlägt ein Kreuzzeichen über der schwer atmenden Sau, besprengt sie mit ein bisschen Weihwasser; dann weiß er erst einmal nicht weiter. Aber er hat ja sein Buch dabei. Er blättert kurz im Register... Segensgebete... Segensgebete für Vieh. Sieh an, da gibt's ja Einiges. Hat er nur bisher nie gebraucht, denn die Bauern hier sind ja alle nicht katholisch. Und in seiner südoldenburgischen Heimat ist er auch noch nie zu Fällen wie diesem gerufen worden. Da war er ja auch nur Kaplan. Komisch eigentlich, denkt er, dass Pastor Berens 'so etwas' prinzipiell 'nicht macht'. Wäre doch genau seine Zielgruppe. Er beschließt, er müsse sich mal erkundigen, ob die anderen evangelischen Pastoren im Einzugsbereich seiner Pfarrei das genauso handhaben. Da könnte ein gewisses missionarisches Potential schlummern. 

Kaum hat Pfarrer Wagener sein Gebet zu Ende gesprochen, da kommt schon das erste Ferkel aus dem Leib der Sau hervor - rosig, drall und kerngesund. Bauer Karsten Klausmüller schlägt dem Geistlichen so enthusiastisch auf die Schulter, dass ihm fast die Knie nachgeben. "Seh'n Se, Herr P'stoor, dat wirkt schon! - Nu mööt wi een Korn drinken." 
Als hätte sie nur auf dieses Kommando gewartet, bringt die alte Jette, die sich bisher respektvoll im Hintergrund gehalten hat, wie aus dem Nichts eine Flasche Korn und zwei Gläser herbei. Normalerweise trinkt Pfarrer Wagener so gut wie keinen Alkohol, abgesehen von dem Schluck Messwein viermal in der Woche und zu besonderen Festzeiten des Kirchenjahres etwas öfter. Aber es gibt eben Situationen, da kann man nicht gut nein sagen - und dies ist eindeutig eine solche, das wäre ihm auch ohne Karsten Klausmüllers Bekräftigung "Dat's Traditschoon!" klar genug gewesen. Also stürzt er todesmutig den Korn hinunter - und da kommt auch schon das zweite Ferkel, und ehe er sich's versieht, hat Klausmüller ihm das Schnapsglas wieder gefüllt. 
"Wie", fragt der Geistliche irritiert, "noch einen?" 
Na und ob!, bestätigt Bauer Klausmüller lachend: für jedes Ferkel einen, so sei es Brauch. Anderswo, so fügt er verschmitzt hinzu, werde sogar für jedes Bein und jedes Ringelschwänzchen ein Schnaps getrunken. 
Das macht also fünf Schnäpse pro Ferkel, rechnet Pfarrer Wagener nach und ist herzlich froh, dass hier nicht 'Anderswo' ist. 

Die Ferkel erblicken jetzt immer rascher hintereinander das Licht der Welt - drei, fünf, sieben, der Pfarrer kann gar nicht so schnell trinken, wie Klausmüller ihm nachschenken will. Immer wieder bedankt sich der Bauer bei ihm für seine Hilfe, umarmt ihn, halb lachend, halb weinend vor Glück. 
Schließlich liegen zwölf allerliebste Ferkelchen friedlich neben ihrer Mutter im Stroh. Der Schweinestall dreht sich vor Martin Wageners Augen, aber er rafft sich doch noch dazu auf, die Ferkelschar mit einem Kreuzzeichen zu segnen und mit ein paar Tröpfchen Weihwasser zu besprengen, ehe er das Taschenaspergill, das Gebetbuch und die Stola umständlich wieder in seinem Notfallkoffer verstaut. 

Es ist schon stockdunkel, als Pfarrer Wagener, schwer angetrunken, quer über die Schafweide seinem Pfarrhaus zuwankt. Wenn sich das herumspricht, denkt er, bin ich für die Leute hier nur noch der 'Schweinepriester'. Zumindest bei den Nichtkatholiken. Den Spitznamen werde ich doch nie wieder los. Dennoch ist er nicht unzufrieden. Dem Bischof wird er wohl lieber nicht davon berichten, aber er denkt doch mit einem Lächeln: Immerhin gibt es jetzt in dieser Gemeinde ein paar katholische Schweine mehr.



Montag, 15. Dezember 2014

Dein Flecken und Flur trösten mich

Ich will mich zwar nicht selber loben - aber wenn es schon sonst keiner tut: Ich glaube, der Grund, warum meine Arbeit als Redakteur beim Landkreisboten mir oft so schwer fällt, ist zugleich auch der Grund dafür, dass ich so gut darin bin. Der Schlüssel zu beidem ist, dass ich aus einer Familie von Zugezogenen komme. Ich bin zwar in der nächsten Stadt geboren, die die Bezeichnung 'Stadt' verdient, und hier in der Samtgemeinde aufgewachsen, aber in den Augen der Alteingesessenen macht das keinen Unterschied: Für die bleiben Zugezogene auch in der dritten Generation noch Zugezogene. 

Aber wie gesagt, für die Arbeit ist es nützlich. Einerseits kenne ich dadurch, dass ich hier aufgewachsen bin, jeden Flecken der Samtgemeinde, von Winnenhögede im Nordwesten bis Kirchmänningen im Südosten, in- und auswendig; ich kenne auch die großen alten Familien, die seit Jahrhunderten die Geschicke all dieser Dörfer und Bauernschaften in Händen halten - die Noltes und ihre illegitimen Anverwandten, die Nöltings; die Boltes und Boltemüllers, die Söfings und Rössings; die Familien Klausmüller und Müllerklaus, unter denen es heftig umstritten ist, ob und wie sie miteinander verwandt sind; all die Schmidtjohanns und Wietings, Linterns und Ermschers. Aber ich bin eben keiner von ihnen - und das ist auch gut so. Denn dadurch, dass ich in all den Jahren, die ich hier lebe, nie so ganz in der Sphäre der Einheimischen angekommen bin, habe ich mir einen fremden Blick auf das scheinbar Bekannte bewahren können. Und das halte ich für wichtig, ja für lebenswichtig für einen Journalisten. Ein Journalist, der anfängt, die Dinge um sich herum für normal und selbstverständlich zu halten, ist für seinen Beruf nicht mehr zu gebrauchen. Das ist beinahe eine Form von Blindheit. 

Wenn man als Lokaljournalist in dieser Samtgemeinde der Versuchung erliegt, die Dinge, wie sie sind, als normal und selbstverständlich hinzunehmen, dann sieht man nur gut 200 Quadratkilometer norddeutscher Landschaft, bewohnt von fünfzehntausend ganz gewöhnlichen Menschen, die ihren ganz normalen, alltäglichen Tätigkeiten nachgehen. Durch die Geestrandlage ist das Landschaftsbild sehr hügelig - äh nein, ich meine: vielfältig. Einen Großteil der Fläche nehmen Weidegründe für Milchvieh ein, dazwischen Anbauflächen für Kartoffeln, Mais und andere Feldfrüchte - und ein bisschen chemische und metallverarbeitende Industrie. Hat man sich einmal daran gewöhnt, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind, findet man es auch nicht weiter bemerkenswert, dass diese Industrieanlagen mitten zwischen die Viehweiden und Maisfelder geklatscht sind, als wären da UFOs gelandet. Dann kann man vielleicht auch die soundsoviel Kühe ignorieren, die Jahr für Jahr tot auf der Weide umfallen oder notgeschlachtet werden müssen, und muss sich erst gar keine Gedanken darum machen, ob etwas, das für Kühe schlecht ist, vielleicht auch für Menschen nicht so prima sein könnte. Hat man sich hingegen seinen fremden Blick bewahrt, dann weiß man auch: Keine Landschaft ist so idyllisch, dass sich in ihr nicht irgendwo eine Jarosit-Deponie verstecken könnte, deren Inhalt ausreichend würde, die gesamte Weltbevölkerung dreimal zu vergiften. 

Andererseits darf man aber auch nicht in die Falle tappen, die Industrie zu verteufeln und dafür die Landwirtschaft zu idealisieren. Die ist nämlich, wenn man genau hinsieht, ein mindestens genauso schmutziges Geschäft. Und damit meine ich nicht nur (aber natürlich auch) den ökologischen Aspekt. 

Eine grundsätzliche Wahrheit über Landwirtschaft, die sich Jeder, der nicht den Fehler macht, Dinge für selbstverständlich zu halten, an seinen zehn Fingern abzählen kann, lautet: Es gibt bessere und schlechtere Böden. Gerade in Geestrandlage. Natürlich will jeder Bauer die besseren Böden für sich haben. Soll man sich da noch wundern, dass die großen Bauern der Samtgemeinde, so jovial sie nach außen hin miteinander umgehen, einander insgeheim durchweg spinnefeind sind? 

Aufgewachsen bin ich in Gimmerten, dem Hauptort einer der fünf Einzelgemeinden, die im Zuge einer Gebietsreform ein paar Jahre vor meiner Geburt zur Samtgemeinde zusammengeschlossen wurden. Gimmerten ist die nordwestlichste dieser fünf Gemeinden, und in gewissem Sinne die ländlichste - insofern, als es dort keine Industrie gibt, abgesehen von einer Futtermittelfabrik, die aber ja im weitesten Sinne auch noch als landwirtschaftlicher Betrieb gelten kann. Dafür hat die Gemeinde Gimmerten guten Boden - Marschboden nämlich. Das führt dazu, dass sich dort auch kleine Bauernhöfe noch recht gut über Wasser halten können, während in den südlicheren und östlicheren Teilen der Samtgemeinde nahezu das ganze Land in den Händen einiger weniger Großbauern ist, und das auch nicht erst seit gestern. Früher jedoch haben die Großbauern diejenigen ihrer Ländereien, die sie nicht selbst bewirtschaften konnten, verpachtet. Das ist heute, angesichts immer größerer und immer effizienterer Landmaschinen, kaum mehr notwendig. Folglich werden den Pächtern ihre Pachtverträge entzogen, und sie ziehen entweder weg oder sie suchen sich eine andere Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen - zum Beispiel in der Industrie. Oder sie verarmen eben. Wie die Rössings in Achternbeek in der Gemeinde Möhlenbeek, obwohl sie eigentlich aus einer reichen Familie stammen. Oder wie die Ermschers, die noch vor drei Generationen den zweitgrößten Hof in der Gemeinde Gimmerten, den Wetterhof in Winnenhögede, in Pacht hatten. Wobei man sagen muss, dass das beides keine besonders guten Beispiele sind, weil beide Familien nicht ganz ohne eigene Schuld verarmt sind. Da war in beiden Fällen eine ganze Menge Alkohol und Misswirtschaft im Spiel. 

-- Das ist übrigens noch so etwas, wofür es notwendig ist, sich den fremden Blick zu bewahren. All diese sauberen, anständigen Leute, die brav ihre Steuern zahlen, im Samtgemeinderat oder im Kuratorium dieser oder jener wohltätigen Stiftung sitzen und sich beim Neujahrsempfang auf Gut Rössingen im Glanz ihrer Wohlanständigkeit sonnen, haben nämlich durch die Bank so ihre Leichen im Keller. Und das mehr oder weniger sogar im wortwörtlichen Sinne: Es gibt kaum eine große alte Familie in der Samtgemeinde, wo nicht mal eine Frau ihren Mann (oder umgekehrt) mit der Axt erschlagen, ein jüngerer Bruder den älteren - vorgeblich aus Versehen - auf der Jagd erschossen oder ein von der Abschiebung aufs Altenteil bedrohter Bauer seine Schwiegertochter geschwängert hätte. Das alles muss man, wenn einem seine Stellung als Lokalredakteur lieb ist, nicht unbedingt offen zur Sprache bringen; aber wissen muss man es. 

Das mag alles sehr bitter klingen, und Sie könnten mich jetzt fragen, warum um alles in der Welt ich denn nach meinem Studium und meinem Volontariat bei einer größeren, großstädtischeren Zeitung wieder hierher zurückgekommen bin. Sicher hätte ich doch auch irgendwo anders eine vergleichbare, wenn nicht bessere Stellung finden können. - Wissen Sie was? Manchmal stelle ich mir selbst genau diese Frage. Was mich bloß geritten hat, ausgerechnet bei der Lokalredaktion des Landkreisboten anzuheuern. Meine erste Antwort lautet dann stets, es sei nun einmal wichtig, dass es hier jemanden gibt, der hinter die Fassaden schaut und sich nicht von der scheinbaren Normalität einlullen lässt. Und wenn ich das nicht täte, wer täte es dann? Aber im Grunde weiß ich selbst, dass das keine überzeugende Antwort ist. 

Besonders sonnabends nachmittags, wenn ich etwas Ruhe von der Arbeit habe, weil am Sonntag keine Zeitung erscheint, lässt mich dieser Gedanke oft nicht los. Und dann hole ich mir manchmal, vorausgesetzt es ist schönes Wetter, mein Fahrrad aus der Garage und lasse die Häuser und Gärten von Groß Söfingen hinter mir - in nicht einmal zehn Minuten bin ich auf freiem Feld. Es war eine der seltenen guten Ideen der Samtgemeindeverwaltung, das Netz der Wirtschaftswege, das die Felder und Weiden durchzieht, als Radwanderwege zu beschildern. Ohne diese Wegweiser an jeder Kreuzung und Gabelung wäre es ein Wagnis, sich diesem Labyrinth auszuliefern, selbst für mich, der ich doch einigermaßen ortskundig bin. Ich könnte mich für Stunden in dieser grünen Landschaft verlieren, dieser schier endlosen Weite, die nur hier und da unterbrochen wird durch eine Baumgruppe, eine gewölbte Holzbrücke über einen kleinen Wasserlauf, den spitzen Turm einer spätmittelalterlichen Backsteinkirche oder eine uralte, geduckt und runzlig dastehende Bauernkate mit ihrem fast bis zur Erde reichenden reetgedeckten Dach. Und dann fällt mir wieder ein, was der eigentliche Grund ist, warum ich hier bin. Nämlich - auch wenn es mir selbst sonderbar vorkommt, das zu sagen - weil ich dieses Land liebe. Es ist eine vielfach unerwiderte, oft enttäuschte, immer wieder hart auf die Probe gestellte Liebe, aber das hat sie letztendlich nur stärker gemacht. 

Und schließlich ist Liebe ja auch eine Art, die Dinge nicht als selbstverständlich hinzunehmen. 



Dienstag, 9. Dezember 2014

Denkt euch, ich habe das Rentier gekillt

Preisfrage: Wer trägt mehr zur Regulierung des Wildbestandes bei - die Jäger oder die Autofahrer?

Auf Niedersachsens Straßen und Bahngleisen werden pro Jahr 28.000 Rehe totgefahren, und von Jahr zu Jahr werden es tausend mehr. Dazu kommen rund 150 Rothirsche, knapp tausend Damhirsche und eineinhalbtausend Wildschweine. Und das sind wohlgemerkt nur die gemeldeten Wildunfälle. -- Ich weiß, ich weiß: Wildunfälle müssen gemeldet werden. Theoretisch. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass beispielsweise bei den Rössings in Achternbeek von Zeit zu Zeit mal ein unregistrierter, mit Opa Rössings rotzgrünem 70er-Jahre-Mercedes erlegter Rehbraten auf den Tisch kommt. Besonders zu Weihnachten. Die haben ja sonst nichts. 

Bei ihren wohlhabenden entfernten Verwandten, den Rössings auf Gut Rössingen, gibt es ebenfalls Wild zu Weihnachten - mal Reh, mal Schwein, auf jeden Fall aber ohne Reifenspuren. Bernulf Rössing jr. ist zwar, im Gegensatz zu seinem verstorbenen Vater, ein miserabler Jäger und hat eigentlich auch gar keine Freude an diesem blutigen Handwerk, aber einmal im Jahr muss er da durch - das erwartet seine Mutter von ihm. Weihnachten hat was Selbstgeschossenes auf den Tisch zu kommen, das ist Familientradition. Also geht Bernulf Rössing jr. alle Jahre wieder mehr oder minder widerwillig auf die Pirsch. Wenn ihm nichts Anständiges vor die Flinte kommt, kauft er seinem Skatbruder Weigelt Schmidtjohann, der regelmäßig weit mehr Wild zur Strecke bringt, als seine Familie essen kann, ein Reh oder eine Wildsau ab - aber heimlich, seine Mutter darf nichts davon erfahren. Die Schmidtjohanns gehören zwar zu den reichsten Bauern der Samtgemeinde, aber sie sind keine alte Bauernfamilie. Vor drei Generationen oder so waren sie noch Schmiede, daher auch der Name. Aus Sicht einer Bertha Rössing, geborene Nolte, sind sie damit Emporkömmlinge. Man muss sich, schon im eigenen Interesse, einigermaßen gut mit ihnen stellen, darf sie aber nicht als ebenbürtig anerkennen. Beispielhaft auf den Punkt gebracht: Zum Neujahrsempfang auf Gut Rössingen werden die Schmidtjohanns eingeladen, aber würde Weigelt Schmidtjohann sich dazu versteigen, auf seinem Finkenhof selbst einen Neujahrsempfang zu geben, ginge Bertha Rössing, geborene Nolte, selbstverständlich nicht hin. -- Aus demselben Grunde wäre es eine Schmach für sie, anerkennen zu müssen, dass Weigelt Schmidtjohann ein besserer Jäger ist als ihr eigener Sohn. Dass vermutlich selbst Opa Rössing aus Achternbeek am Steuer seines rotzgrünen 70er-Jahre-Mercedes ein besserer Jäger ist als Bernulf jr., steht auf einem anderen Blatt. Die passionierten Jäger der Samtgemeinde spotten an ihrem Stammtisch gern, Bernulf jr. wäre mit der von seinem Alten Herrn geerbten Jagdflinte bestenfalls im Stande, auf dreißig Schritt Entfernung den Kirchturm von Dorf Rössingen zu treffen; aber immerhin sind sie loyal genug, dass sie das der alten Bertha nicht verraten.

Da das diesjährige Weihnachtsfest näher rückt, aber immer noch kein Festtagsbraten in der Rössingschen Gefriertruhe schlummert, hat sich Bernulf Rössing jr. wieder einmal mit Weigelt Schmidtjohann zu einem gemeinsamen Jagdausflug ins Gimmertener Holz verabredet. Weigelt hat zwar gewitzelt, bessere Aussichten hätten sie, wenn sie sich an einem Wildwechsel an der Landesstraße nach Diepholz postierten, aber Bernulf hat schließlich auch seinen Stolz.

Und nun sitzen sie in der Dämmerung mit ihren Gewehren auf Weigelts bevorzugtem Hochsitz im Gimmerter Holz und warten. Weigelt schmaucht dabei behaglich seine kurze krumme Pfeife und spricht kaum alle halbe Stunde einmal ein Wort; Bernulf denkt, dass Jagen so ähnlich sei wie Angeln, nur auf dem Trockenen. Im Angeln ist er allerdings ähnlich erfolglos, und es macht ihm auch genauso wenig Spaß.

Auf einmal regt sich etwas im Gehölz, und Bernulf ist auf einen Schlag hellwach. Kaum zeigt sich ein von einem Geweih gekrönter Tierkopf zwischen den Bäumen, da hat er schon das Gewehr im Anschlag.
Weigelt hat keine Chance, ihn zurückzuhalten. "War-", beginnt er, aber die zweite Silbe "-te" wird von Bernulfs Schuss übertönt.
Es ist schwer zu sagen, welcher der beiden Männer überraschter ist, als das Tier, das so unvorsichtig seinen Kopf zwischen den Bäumen hervorgestreckt hat, tatsächlich leblos zusammenbricht.
"Beachtlicher Schuss", brummt Weigelt anerkennend und erhebt sich gemächlich von seinem Sitz. "Dann wollen wir uns den Kawenzmann mal näher ansehen."

Obwohl Weigelt Schmidtjohann bekannt dafür ist, sich mit einer Behäbigkeit zu bewegen, als halte er Eile für unter seiner Würde, ist er schon vom Hochsitz herunter und bei dem toten Tier angekommen, ehe Bernulf, dem vor Erregung über sein Jagdglück die Knie zittern, die unterste Sprosse der Leiter erreicht hat.
"Ein Blattschuss wie aus dem Lehrbuch!", ruft Weigelt ihm entgegen. "Hätte ich nicht besser gekommt. Aber schau dir mal an, was für ein seltenes Wild du da erlegt hast!"

Bernulf traut seinen Augen nicht, als er endlich seine Jagdbeute erreicht hat. Was da tot vor ihm liegt, ist ohne jeden Zweifel ein Esel, dem man mit Hilfe eines knallroten Zaumzeugs ein künstliches Rentiergeweih auf dem Kopf befestigt hat.

"Der muss aus dem Wanderzirkus ausgebüxt sein, der in Gimmerten gastiert", bemerkt Weigelt trocken. "Die Zirkusleute scheinen ihre Tiere schlecht zu füttern, sonst wäre der Esel wohl geblieben, wo er hingehört."
Bernulf antwortet nicht. Er steht nur zitternd da und wird abwechselnd rot und blass.
"Nun mach dir mal keine Sorgen", beschwichtigt ihn Weigelt und schlägt ihm jovial auf die Schulter, woraufhin Bernulf nur noch mehr zittert. "Morgen früh fahre ich zu den Zirkusleuten und bezahle ihnen ihren Esel - obwohl sie eigentlich selbst schuld sind, wenn sie ihn ausreißen lassen, aber was soll's. Vielleicht lasse ich ihn ausstopfen und schenke ihn meinen Enkelkindern. Und du kannst für dein Weihnachtsessen wieder einen Rehbraten von mir bekommen. Bei mir gibt's dieses Jahr Wildschweinbratwürste."

Da Bernulf immer noch nicht antwortet, blickt Weigelt auf und muss laut lachen, als er den verstörten Gesichtsausdruck seines Kameraden sieht. "Du kannst dich natürlich auch als Polizeikontrolle ausgeben", spottet er, "und Opa Rössing aus Achternbeek auf dem Heimweg vom Möhlenbeeker Dorfkrug abfangen. Vielleicht hat er was Schönes für dich im Kofferraum."



[Inspirationsquellen: siehe hier... und hier!

Samstag, 6. Dezember 2014

Weihnachtsmarkt mit Tinnef und Gedöns

Die Puvogel-Frauen, und zwar alle Frauen dieser Familie, auch und besonders die angeheirateten, sind berüchtigt für ihre sozialpädagogische Ader. Annemie Puvogel zum Beispiel, obwohl sie von Beruf eigentlich Chemielaborantin ist und bei LiquiTech in Medeloh arbeitet. Besser gesagt: gearbeitet hat, bevor die Fabrik explodiert ist. Zu ihrem Glück fand die Explosion außerhalb ihrer Arbeitszeit statt. Ihr Gehalt wird ihr vorerst weitergezahlt. Und dann muss man mal sehen. 

Eigentlich heißt Annemie Puvogel natürlich Annemarie mit Vornamen, aber sie wurde schon als Kind Annemie gerufen, und dabei ist es geblieben. Zumindest soweit es ihre Verwandten und Freunde betrifft. Menschen, die ihr weniger wohlgesonnen sind, nennen sie hinter ihrem Rücken auch gern Pannemarie - einerseits wohl, weil die Leute hier einfach eine Vorliebe für alliterierende Vor- und Nachnamen haben, andererseits und vor allem aber, weil Annemie Puvogel so vertrottelte Hobbies hat wie die Anfertigung von Schmuck aus gebrauchten Nespresso-Kapseln

Das klingt abwegig, aber es ist wahr: Annemie Puvogel bastelt aus ausgelutschten Aluminium-Näpfchen Armbänder, Halsketten, Broschen, Haarspangen und allen möglichen sonstigen Tinnef, womöglich sogar Ohrringe. Sie hat dieses Hobby schon länger, aber seit sie den ganzen Tag zu Hause sitzt, ist ihre Produktion sprunghaft angestiegen. Stellt sich natürlich die Frage, wohin mit dem ganzen Ramsch. Glücklicherweise ist demnächst Weihnachtsmarkt in Gössweiler, und da will Pannemarie ihre 'Creationen' an den Mann oder die Frau bringen. 

Diese Information verdanke ich meiner Tätigkeit als Lokalredakteur beim Landkreisboten. Ich bin einer von genau vier hauptberuflichen Mitarbeitern dieser Lokalredaktion, einschließlich eines Fotografen. Nun gut, es ist eben eine kleine Zeitung - aber die Samtgemeinde ist groß, und wir paar Hauptberuflichen können nicht überall zugleich sein. Folglich sind wir in unserem Berufsalltag auf die Zuarbeit so genannter 'freier Mitarbeiter' angewiesen. Hinter dieser Bezeichnung verbergen sich zum Teil Schüler der oberen Klassen des Gymnasiums Groß Söfingen, zum Teil Hausfrauen, zum Teil Lehrer oder andere Beschäftigte im Öffentlichen Dienst und zum Teil Rentner. Damit decken wir immerhin ein recht großes Interessenspektrum ab - sage ich mir manchmal, wenn ich etwas Aufmunterung brauche. Ich würde gern behaupten, so unterschiedlich wie unsere freien Mitarbeiter sei auch die Qualität ihrer Beiträge; aber ich fürchte, da müsste ich lügen. 

Ich war somit von vornherein nicht besonders euphorisch, als Barbara Nölting freudestrahlend einen Vorbericht zum Weihnachtsmarkt in Gössweiler bei mir einreichte. Barbara Nölting gehört zur Hausfrauenfraktion unserer freien Mitarbeiter - und außerdem, auch wenn das eigentlich nichts zur Sache tut, gehört sie zu den hier auf dem Lande gar nicht so seltenen Frauen, die ihr ganzes Leben lang aussehen wie Vierzig. Schon auf den Gruppenfotos von ihrer Konfirmation sieht sie aus wie Vierzig, und ich vermute mal, wenn sie eines fernen Tages ihre Goldenen Hochzeit feiert oder ihr erstes Urenkelkind aus der Taufe hebt, wird sie immer noch aussehen wie Vierzig. Irgendwie also durchaus beneidenswert, aber eben erst ab einem gewissen Alter.

Kaum dass sie mein Büro verlassen hatte und ich mich mit einem unterdrückten Seufzer der Lektüre ihres Berichts zuwenden wollte, hatte ich plötzlich eine Vision: wie ich in zwanzig oder noch mehr Jahren immer noch in dieser Lokalredaktion sitze, wie die unverändert vierzigjährig aussehende Barbara Nölting einen Artikel bei mir einreicht und ich ihn ungelesen durchwinke - den Text, ohne ihn eines zweiten Blickes zu würdigen, einfach an den Setzer weiterleite. Aus purem Überdruss daran, Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr den ganzen Quatsch lesen zu müssen, den die freien Mitarbeiter mir abliefern. Wobei ich jedoch nicht auf einen Versuch verzichte, diesen Überdruss mit vorgeschobenen Argumenten zu bemänteln. Barbara ist eine erfahrene und bewährte Mitarbeiterin, es wird schon in Ordnung sein, was sie geschrieben hat. Nicht gut, aber in Ordnung.

Die Vision zerplatzte wie eine Seifenblase. Ich nahm noch einen Schluck Kaffee zur Stärkung meiner Nerven, dann biss ich die Zähne zusammen und machte mich daran, Barbaras Weihnachtsmarkt-Vorbericht zu lesen.

Der Text war rund 4.000 Zeichen lang, ein bisschen viel für die bloße Ankündigung einer bevorstehenden Veranstaltung, aber nun gut, irgendwie müssen wir die Zeitung schließlich jeden Tag voll kriegen. Auch die Formulierung "Volle zwei Tage lang wird der Weihnachtsmarkt das Pflaster des Marktplatzes von Gössweiler zum Glühen bringen" ließ ich Barbara achselzuckend durchgehen. Ausgesprochen konsterniert war ich jedoch, festzustellen, dass mehr als drei Viertel des Artikels sich ausschließlich um Annemie Puvogels Schmuckstücke aus Nespresso-Kapseln drehten.
Annemie kam ausgiebig selbst zu Wort - durfte berichten, dass ihr die Idee zu diesem Hobby im Zusammenhang mit ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit im Seniorenheim gekommen sei (die sie inzwischen aufgegeben hat, weil sie davon Depressionen bekommen hat - was jedoch nicht erwähnt wurde); durfte sich lang und breit darüber auslassen, dass sie selbst keine Nespresso-Maschine habe, obwohl der Kaffee sehr lecker sei, aber ihrem Mann seien die Maschine und vor allem die Kapseln einfach zu teuer, und deshalb müsse sie sich das Material für ihr 'Kunsthandwerk' eben bei Anderen zusammensammeln, bei Freunden, Nachbarn  und Arbeitskollegen (Arbeitskollegen! Vor meinem geistigen Auge flog die LiquiTech-Fabrik in Medeloh ein zweites Mal in die Luft, und ich fragte mich, ob die Leser wohl dieselbe Assoziation haben würden, zumindest diejenigen Leser, die wissen, wo Annemie gearbeitet hat); und dann folgten wortreiche, aber seltsam unanschaulich bleibende Beschreibungen einiger von Annemies 'Creationen'. Fotos hatte Barbara dem Artikel nicht beigefügt, und ich nahm an, dass das seine Gründe hatte. Dass sich an dem Weihnachtsmarkt in Gössweiler neben Annemie Puvogel noch über hundert weitere Aussteller beteiligen, erwähnte der Artikel nur beiläufig.

Glaubt man Barbara Nölting, dann kann man den Eindruck gewinnen, Pannemaries Schmuck aus Aluminiumabfällen wäre die größte Attraktion des ganzen Weihnachtsmarkts. Aber im Grunde ist das gar nicht so überraschend, wenn man weiß, was - neben mir selbst - ziemlich sicher zahlreiche Leser des Landkreisboten wissen werden: dass Barbara Nölting eine Schwägerin von Pannemarie ist. Und somit eine geborene Puvogel.

Mit einem diesmal nicht unterdrückten Seufzer machte ich mir klar, dass mir, um den Artikel zu verbessern, wohl nichts Anderes übrig blieb, als selbst Erkundigungen einzuziehen, was der Weihnachtsmarkt denn noch so zu bieten haben wird. Also griff ich zum Telefon und rief bei einigen Geschäften in Gössweiler an, außerdem bei den Vorsitzenden oder Pressesprechern einiger örtlicher Vereine.
Die Ergebnisse waren niederschmetternd. Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas einmal sagen würde, aber verglichen mit dem Programm dieses Weihnachtsmarkts in Gössweiler hatte der letzte Groß Söfinger Adventsmarkt fast schon großstädtisches Flair. Da gab es Mädchen mit Rastalocken, die Hanfprodukte und vegane Lebkuchen verkauften, und die Freie Waldorfschule bot Kurse für Moosgärtnern, Kerzenziehen und Strohsternbasteln an. In Gössweiler hingegen heißen die Programmhöhepunkte Tombola und Ponyreiten, Erbsensuppe aus der Gulaschkanone, Shantychor und Jagdhornbläser aus Kirchmänningen mit einem "aus kirchlichen und weihnachtlichen Stücken gemischten Programm" - und "im Laufe des Nachmittags wird zudem der Weihnachtsmann erwartet"! Damit nicht genug, teilte man mir schließlich mit, "als geselligen Abschluss" werde es eine "Weihnachtsparty in der Schützenhalle" geben. Sowas kann man doch nicht schreiben, dachte ich und warf das schnurlose Telefon entnervt aufstöhnend auf einen Stapel unerledigter Post auf meinem Schreibtisch. Dann schon lieber Pannemarie mit ihrem schrottigen Alu-Schmuck. 



[Inspirationsquelle: siehe hier.] 

Freitag, 5. Dezember 2014

Schwarzer Peter für Schlaubi-Schlumpf (oder: Blackfacing for Africa)

Die Klasse 8a des Gymnasiums Groß Söfingen berät darüber, was sie zur Weihnachtsfeier der Schule beitragen soll. Der Erlös dieser Weihnachtsfeier wird dem Hilfswerk Terre des Hommes zu Gute kommen, das in Mali Brunnen bohrt. Lehrerin Linda Laarmann gibt sich alle Mühe, den Namen der Hilfsorganisation korrekt französisch auszusprechen. Teerdesomm. So richtig französisch klingt es aber doch nicht. 

"Wir könnten Geld dafür nehmen, dass die Besucher sich mit dem Weihnachtsmann fotografieren lassen", schlägt jemand vor. Die Idee kommt gut an, und schnell sind sich alle einig, dass Nikolaus Nölting den Weihnachtsmann spielen soll - wo er doch sowieso schon Nikolaus heißt, das passt doch prima, ho ho ho. Aber dann wirft jemand die Frage auf: "Und was machen die Anderen die ganze Zeit?" 

Es wird erwogen, dass sich ja auch noch andere Schüler verkleiden könnten - zwar nicht als Weihnachtsmann, denn den dürfe es nur einmal geben; aber als Engel, als Weihnachtselfen, vielleicht sogar als Rentiere. Letzteres wird dann aber doch als zu aufwändig verworfen. 
"Und wie wäre es mit dem Schwarzen Piet?", ruft Billy Bolte in die Runde. Billy ist etwas klein gewachsen für sein Alter und trägt eine zu große Hornbrille, aber dafür ist er Klassenbester. All dies zusammengenommen hat ihm den Spitznamen 'Schlaubi-Schlumpf' eingebracht. Und er macht diesem Spitznamen wieder einmal alle Ehre, denn keiner seiner Mitschüler hat eine Ahnung, wovon er redet. 
"Der Schwarze Piet", doziert Billy ungerührt, "ist eine traditionelle Figur aus den Niederlanden." (Es ist typisch für 'Schlaubi-Schlumpf', dass er 'Niederlande' sagt und nicht 'Holland'.) "Er ist da der Begleiter des Nikolaus, so wie bei uns Knecht Ruprecht." 
"Und wie sieht der aus?", fragt jemand. 
"Ach, der hat einfach irgendeinen Hut auf und einen Umhang um, aber vor allem hat er ein schwarzes Gesicht." 

Wie auf Kommando richten sich alle Augen auf Jeremy Rössing - das einzige dunkelhäutige Kind in der Klasse, das einzige dunkelhäutige Kind auf dieser Schule, ja, wahrscheinlich sogar das einzige dunkelhäutige Kind in der ganzen Samtgemeinde. Wie Bettina Rössing zu einem dunkelhäutigen Kind gekommen ist, weiß keiner so genau, außer ihr selbst wahrscheinlich. Üblicherweise steht stets der Paketbote im Verdacht, für uneheliche Kinder in der Samtgemeinde verantwortlich zu sein - und tatsächlich ist es auffällig, dass gerade alleinstehende Frauen außerordentlich viel Kram aus irgendwelchen Versandkatalogen bestellen. Heutzutage vielleicht auch oder sogar hauptsächlich aus dem Internet, aber in den kleineren Dörfern und Flecken der Samtgemeinde gibt es das vielfach noch gar nicht. Zum Teil nicht einmal Kabelfernsehen, was die Bestellmöglichkeiten noch weiter einschränkt. Muss also doch der gute alte Katalog herhalten. Aber einen schwarzen Paketboten hat in der Samtgemeinde noch nie jemand gesehen. 

Wirklich gewundert hat sich andererseits aber auch niemand über Bettina Rössings dunkelhäutiges Kind. Bei dieser Familie wundert man sich schon lange über gar nichts mehr. Bettina wohnt zwar schon seit Jahren in Klein Söfingen und arbeitet im Handarbeitsgeschäft von Gisela Puvogel, aber sie gehört zu den Rössings aus Achternbeek, und das ist eine seit Generationen verrufene Familie. Uneheliche Kinder, Inzest, Gattenmord, Alkoholismus, Spielschulden, Versicherungsbetrug durch Brandstiftung, das scheint bei den Rössings aus Achternbeek geradezu an der Tagesordnung zu sein. Mit den Rössings auf Gut Rössingen sind die nur ganz entfernt verwandt. Aber man kann sich vorstellen, wie die alte Bertha Rössing auf Gut Rössingen Woche für Woche die Hände über dem Kopf zusammenschlägt über das, was ihre entfernten Verwandten in Achternbeek sich so alles leisten, und insgeheim darüber flucht, dass sie denselben Familiennamen tragen wie sie. Sie selbst ist zwar nur angeheiratet, sie ist eine geborene Nolte, gehört aber immerhin schon seit über fünfzig Jahren zu den Rössings - den echten Rössings, wie sie sagen würde. 

Jeremy Rössing mag es nicht, wenn ihn alle anstarren, und er hat auch keine Lust, bei der Weihnachtsfeier den Schwarzen Peter zu spielen. Letzten Winter hat der katholische Pfarrer von Klein Söfingen ihn gefragt, ob er beim Dreikönigssingen in der Schlesiersiedlung mitmachen wolle, als Mohrenkönig. Er hätte vielleicht ja gesagt, aber seine Mutter war dagegen. Jetzt denkt er, ein Mohrenkönig wäre doch immer noch etwas Besseres gewesen als der Schwarze Peter. 

Plötzlich meldet sich Jacqueline Schmidtjohann, die Klassenprinzessin, zu Wort. Sich selbst hat sie bereits die Rolle eines Engels gesichert - das passt zu ihr, zumindest was das Aussehen betrifft. "Aber wäre es nicht unsinnig", meint sie, "jemanden schwarz anzumalen, der sowieso schon schwarz ist?" 
Vielstimmiges Gemurmel und Getuschel erfüllt den Klassenraum; die meisten Mitschüler scheinen sich unsicher zu sein, was sie von diesem Einwand halten sollen. Nicht jedoch Wiebke Wieting, Jacquelines ewige Rivalin, die auch einen Engel hatte spielen wollen, aber den strategischen Nachteil hat, etwas kleiner, etwas weniger schlank und etwas weniger blond zu sein als Jacqueline. "Unsinn", wirft sie ein. "Das ist doch gerade das Gute, dass wir Jeremy gar nicht erst anmalen müssen." 
Einen Moment lang scheint es, als hätte Wiebke die Klasse auf ihre Seite gebracht; aber der Moment vergeht schnell. "Nein, Jacqueline hat Recht", dekretiert 'Schlaubi-Schlumpf' mit seiner hellen, aber festen Stimme. "Der Scharze Piet muss ein schwarz angemalter Weißer sein und kein echter Schwarzer. Das ist Tradition." 
Jeremy Rössing nimmt diese Wendung der Ereignisse mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis. Einerseits ist er ganz froh, nicht den Schwarzen Peter spielen zu müssen. Andererseits findet er es aber doch ein bisschen diskriminierend, dass er keinen Schwarzen spielen darf, weil er ein Schwarzer ist

Der Rest der Klasse beschließt nahezu einstimmig, dann solle Billy Bolte alias 'Schlaubi-Schlumpf' den Schwarzen Piet eben selber spielen. Ob als Belohnung dafür, dass es seine Idee war, oder als Strafe für seine ewige Klugscheißerei, sei mal dahingestellt. 

Die Diskussion über die Schulweihnachtsfeier scheint abgeschlossen, aber da recken Fabian Wesolowski und Marvin Müllerklaus ihre Arme in die Höhe: Sie haben sich ein eigenes Projekt ausgedacht, sie wollen Gebäckschalen aus alten Vinylschallplatten herstellen und verkaufen. Was ihre Mitschüler von dieser Idee halten, ist ihnen an den Gesichtern anzusehen: Na das war ja klar, dass die beiden wieder eine Extrawurst brauchen. Fabian Wesolowski kommt aus der Schlesiersiedlung in Klein Söfingen, und die Schlesier sind bekannt dafür, bei jeder Gelegenheit ihr eigenes Süppchen zu kochen. Die haben ja sogar ihre eigene Kirche und lassen ihre Kinder nicht zum Religionsunterricht gehen. Und Marvin Müllerklaus kommt zwar nicht aus der Schlesiersiedlung, ist aber erstaunlicherweise trotzdem Fabians bester Freund. Aber wenn sie unbedingt Schüsseln aus alten Schallplatten basteln wollen: Sollen sie doch

Somit sind alle zufrieden, nur Lehrerin Linda Laarmann macht sich Gedanken. Irgendwo, so meint sie sich zu erinnern, hat sie gehört oder gelesen, dass es in den Niederlanden massive Proteste gegen die Figur des 'Schwarzen Piet' als Begleiter des Nikolaus gibt. Weil diese Figur angeblich rassistisch sei. Im Lehrerzimmer schildert sie ihre Bedenken einem Kollegen, aber der meint: "Na, immerhin werden von dem Geld, das ihr mit dieser Aktion einnehmt, Brunnen in Mali gebohrt. Da wird man euch wohl kaum Rassismus vorwerfen können." 


[Inspirationsquelle: siehe hier.]