Montag, 15. Dezember 2014

Dein Flecken und Flur trösten mich

Ich will mich zwar nicht selber loben - aber wenn es schon sonst keiner tut: Ich glaube, der Grund, warum meine Arbeit als Redakteur beim Landkreisboten mir oft so schwer fällt, ist zugleich auch der Grund dafür, dass ich so gut darin bin. Der Schlüssel zu beidem ist, dass ich aus einer Familie von Zugezogenen komme. Ich bin zwar in der nächsten Stadt geboren, die die Bezeichnung 'Stadt' verdient, und hier in der Samtgemeinde aufgewachsen, aber in den Augen der Alteingesessenen macht das keinen Unterschied: Für die bleiben Zugezogene auch in der dritten Generation noch Zugezogene. 

Aber wie gesagt, für die Arbeit ist es nützlich. Einerseits kenne ich dadurch, dass ich hier aufgewachsen bin, jeden Flecken der Samtgemeinde, von Winnenhögede im Nordwesten bis Kirchmänningen im Südosten, in- und auswendig; ich kenne auch die großen alten Familien, die seit Jahrhunderten die Geschicke all dieser Dörfer und Bauernschaften in Händen halten - die Noltes und ihre illegitimen Anverwandten, die Nöltings; die Boltes und Boltemüllers, die Söfings und Rössings; die Familien Klausmüller und Müllerklaus, unter denen es heftig umstritten ist, ob und wie sie miteinander verwandt sind; all die Schmidtjohanns und Wietings, Linterns und Ermschers. Aber ich bin eben keiner von ihnen - und das ist auch gut so. Denn dadurch, dass ich in all den Jahren, die ich hier lebe, nie so ganz in der Sphäre der Einheimischen angekommen bin, habe ich mir einen fremden Blick auf das scheinbar Bekannte bewahren können. Und das halte ich für wichtig, ja für lebenswichtig für einen Journalisten. Ein Journalist, der anfängt, die Dinge um sich herum für normal und selbstverständlich zu halten, ist für seinen Beruf nicht mehr zu gebrauchen. Das ist beinahe eine Form von Blindheit. 

Wenn man als Lokaljournalist in dieser Samtgemeinde der Versuchung erliegt, die Dinge, wie sie sind, als normal und selbstverständlich hinzunehmen, dann sieht man nur gut 200 Quadratkilometer norddeutscher Landschaft, bewohnt von fünfzehntausend ganz gewöhnlichen Menschen, die ihren ganz normalen, alltäglichen Tätigkeiten nachgehen. Durch die Geestrandlage ist das Landschaftsbild sehr hügelig - äh nein, ich meine: vielfältig. Einen Großteil der Fläche nehmen Weidegründe für Milchvieh ein, dazwischen Anbauflächen für Kartoffeln, Mais und andere Feldfrüchte - und ein bisschen chemische und metallverarbeitende Industrie. Hat man sich einmal daran gewöhnt, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind, findet man es auch nicht weiter bemerkenswert, dass diese Industrieanlagen mitten zwischen die Viehweiden und Maisfelder geklatscht sind, als wären da UFOs gelandet. Dann kann man vielleicht auch die soundsoviel Kühe ignorieren, die Jahr für Jahr tot auf der Weide umfallen oder notgeschlachtet werden müssen, und muss sich erst gar keine Gedanken darum machen, ob etwas, das für Kühe schlecht ist, vielleicht auch für Menschen nicht so prima sein könnte. Hat man sich hingegen seinen fremden Blick bewahrt, dann weiß man auch: Keine Landschaft ist so idyllisch, dass sich in ihr nicht irgendwo eine Jarosit-Deponie verstecken könnte, deren Inhalt ausreichend würde, die gesamte Weltbevölkerung dreimal zu vergiften. 

Andererseits darf man aber auch nicht in die Falle tappen, die Industrie zu verteufeln und dafür die Landwirtschaft zu idealisieren. Die ist nämlich, wenn man genau hinsieht, ein mindestens genauso schmutziges Geschäft. Und damit meine ich nicht nur (aber natürlich auch) den ökologischen Aspekt. 

Eine grundsätzliche Wahrheit über Landwirtschaft, die sich Jeder, der nicht den Fehler macht, Dinge für selbstverständlich zu halten, an seinen zehn Fingern abzählen kann, lautet: Es gibt bessere und schlechtere Böden. Gerade in Geestrandlage. Natürlich will jeder Bauer die besseren Böden für sich haben. Soll man sich da noch wundern, dass die großen Bauern der Samtgemeinde, so jovial sie nach außen hin miteinander umgehen, einander insgeheim durchweg spinnefeind sind? 

Aufgewachsen bin ich in Gimmerten, dem Hauptort einer der fünf Einzelgemeinden, die im Zuge einer Gebietsreform ein paar Jahre vor meiner Geburt zur Samtgemeinde zusammengeschlossen wurden. Gimmerten ist die nordwestlichste dieser fünf Gemeinden, und in gewissem Sinne die ländlichste - insofern, als es dort keine Industrie gibt, abgesehen von einer Futtermittelfabrik, die aber ja im weitesten Sinne auch noch als landwirtschaftlicher Betrieb gelten kann. Dafür hat die Gemeinde Gimmerten guten Boden - Marschboden nämlich. Das führt dazu, dass sich dort auch kleine Bauernhöfe noch recht gut über Wasser halten können, während in den südlicheren und östlicheren Teilen der Samtgemeinde nahezu das ganze Land in den Händen einiger weniger Großbauern ist, und das auch nicht erst seit gestern. Früher jedoch haben die Großbauern diejenigen ihrer Ländereien, die sie nicht selbst bewirtschaften konnten, verpachtet. Das ist heute, angesichts immer größerer und immer effizienterer Landmaschinen, kaum mehr notwendig. Folglich werden den Pächtern ihre Pachtverträge entzogen, und sie ziehen entweder weg oder sie suchen sich eine andere Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen - zum Beispiel in der Industrie. Oder sie verarmen eben. Wie die Rössings in Achternbeek in der Gemeinde Möhlenbeek, obwohl sie eigentlich aus einer reichen Familie stammen. Oder wie die Ermschers, die noch vor drei Generationen den zweitgrößten Hof in der Gemeinde Gimmerten, den Wetterhof in Winnenhögede, in Pacht hatten. Wobei man sagen muss, dass das beides keine besonders guten Beispiele sind, weil beide Familien nicht ganz ohne eigene Schuld verarmt sind. Da war in beiden Fällen eine ganze Menge Alkohol und Misswirtschaft im Spiel. 

-- Das ist übrigens noch so etwas, wofür es notwendig ist, sich den fremden Blick zu bewahren. All diese sauberen, anständigen Leute, die brav ihre Steuern zahlen, im Samtgemeinderat oder im Kuratorium dieser oder jener wohltätigen Stiftung sitzen und sich beim Neujahrsempfang auf Gut Rössingen im Glanz ihrer Wohlanständigkeit sonnen, haben nämlich durch die Bank so ihre Leichen im Keller. Und das mehr oder weniger sogar im wortwörtlichen Sinne: Es gibt kaum eine große alte Familie in der Samtgemeinde, wo nicht mal eine Frau ihren Mann (oder umgekehrt) mit der Axt erschlagen, ein jüngerer Bruder den älteren - vorgeblich aus Versehen - auf der Jagd erschossen oder ein von der Abschiebung aufs Altenteil bedrohter Bauer seine Schwiegertochter geschwängert hätte. Das alles muss man, wenn einem seine Stellung als Lokalredakteur lieb ist, nicht unbedingt offen zur Sprache bringen; aber wissen muss man es. 

Das mag alles sehr bitter klingen, und Sie könnten mich jetzt fragen, warum um alles in der Welt ich denn nach meinem Studium und meinem Volontariat bei einer größeren, großstädtischeren Zeitung wieder hierher zurückgekommen bin. Sicher hätte ich doch auch irgendwo anders eine vergleichbare, wenn nicht bessere Stellung finden können. - Wissen Sie was? Manchmal stelle ich mir selbst genau diese Frage. Was mich bloß geritten hat, ausgerechnet bei der Lokalredaktion des Landkreisboten anzuheuern. Meine erste Antwort lautet dann stets, es sei nun einmal wichtig, dass es hier jemanden gibt, der hinter die Fassaden schaut und sich nicht von der scheinbaren Normalität einlullen lässt. Und wenn ich das nicht täte, wer täte es dann? Aber im Grunde weiß ich selbst, dass das keine überzeugende Antwort ist. 

Besonders sonnabends nachmittags, wenn ich etwas Ruhe von der Arbeit habe, weil am Sonntag keine Zeitung erscheint, lässt mich dieser Gedanke oft nicht los. Und dann hole ich mir manchmal, vorausgesetzt es ist schönes Wetter, mein Fahrrad aus der Garage und lasse die Häuser und Gärten von Groß Söfingen hinter mir - in nicht einmal zehn Minuten bin ich auf freiem Feld. Es war eine der seltenen guten Ideen der Samtgemeindeverwaltung, das Netz der Wirtschaftswege, das die Felder und Weiden durchzieht, als Radwanderwege zu beschildern. Ohne diese Wegweiser an jeder Kreuzung und Gabelung wäre es ein Wagnis, sich diesem Labyrinth auszuliefern, selbst für mich, der ich doch einigermaßen ortskundig bin. Ich könnte mich für Stunden in dieser grünen Landschaft verlieren, dieser schier endlosen Weite, die nur hier und da unterbrochen wird durch eine Baumgruppe, eine gewölbte Holzbrücke über einen kleinen Wasserlauf, den spitzen Turm einer spätmittelalterlichen Backsteinkirche oder eine uralte, geduckt und runzlig dastehende Bauernkate mit ihrem fast bis zur Erde reichenden reetgedeckten Dach. Und dann fällt mir wieder ein, was der eigentliche Grund ist, warum ich hier bin. Nämlich - auch wenn es mir selbst sonderbar vorkommt, das zu sagen - weil ich dieses Land liebe. Es ist eine vielfach unerwiderte, oft enttäuschte, immer wieder hart auf die Probe gestellte Liebe, aber das hat sie letztendlich nur stärker gemacht. 

Und schließlich ist Liebe ja auch eine Art, die Dinge nicht als selbstverständlich hinzunehmen. 



2 Kommentare:

  1. "Für die bleiben Zugezogene auch in der dritten Generation noch Zugezogene. "

    HA! Du kommst doch aussm Sauerland!

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    1. Bzw:

      HA! Du schreibst doch über's Sauerland!
      (Namen, Orte und geologische Merkmale von der Redaktion geändert.)

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