Donnerstag, 18. Dezember 2014

Fröhliche Schweinnachten!

Martin Wagener, Pfarrer der katholischen Kirchengemeinde Maria Himmelskönigin in Klein Söfingen, sitzt in der Wohnküche des Pfarrhauses und genießt bei Kaffee und Kuchen seinen bis auf Weiteres letzten freien Tag. Weihnachten steht vor der Tür, und das bedeutet eine unüberschaubare Menge Mehrarbeit. Auch außerhalb besonderer Festzeiten findet Pfarrer Wagener es oft erstaunlich, wie viel Arbeit so eine kleine Diasporagemeinde machen kann. Normalerweise liest er viermal in der Woche die Messe - sonntags und donnerstags in Klein Söfingen, sonnabends und mittwochs in der kleinen Allerheiligen-Kapelle in Gimmerten, wo die katholische Minderheit der Samtgemeinde, alles in allem gerade mal vier Prozent der Bevölkerung, eine Art Exklave bildet. An den Weihnachtstagen muss aber eine ganze Reihe zusätzlicher Messen gelesen werden, und davor und danach haben sämtliche Kreise und Gruppen der Pfarrei - Chor, Handarbeitskreis, Seniorenkreis, Krabbelgruppe, Jugendgruppe, Männergruppe - ihre weihnachtlichen Aktivitäten, bei denen der Pfarrer sich zumindest mal sehen lassen muss. Und das alles doppelt, in Klein Söfingen und in Gimmerten. Dazu kommen noch diverse nichtkirchliche Veranstaltungen in der Samtgemeinde, bei denen er ebenfalls Präsenz zeigen und seine Kirche repräsentieren muss. 
-- Wenigstens haben die Leute den Anstand, nicht ausgerechnet in der Weihnachtszeit heiraten zu wollen. Dafür wird aber umso eifriger gestorben. Und auch im Beichtstuhl muss Pfarrer Wagener Überstunden schieben, damit seine Schäfchen mit befreitem Gewissen die Geburt des Herrn feiern können. 

Wagener ist erst seit vier Jahren Pfarrer in Klein Söfingen. Er kommt aus dem Oldenburger Münsterland, wo jedes Haus und jeder Hof, jede Kuh und jedes Pferd, jeder Busch und jeder Baum, jeder Stock und jeder Stein katholisch ist - und nun hat es ihn in die tiefste Diaspora verschlagen. Immerhin, so sagt er sich, ist es ein Außenposten der katholischen Welt, den es zu halten gilt. So gesehen hat man ihm eine verantwortungsvolle Aufgabe anvertraut. 

Begründet wurde dieser Außenposten im Jahr 1946, als ein kleines Häuflein Heimatvertriebener aus Schlesien in der Gemeinde ankam - überwiegend Frauen und Kinder, die Männer waren größtenteils gefallen oder in Gefangenschaft. Ihren Pfarrer hatten sie gleich mitgebracht, einen ebenso rundlichen wie energischen Mann namens Knipp, der den Titel eines Geistlichen Rats trug. 
Dass die Schlesier sich gerade in Klein Söfingen niederließen, rührte daher, dass hier ein Bauer namens Ottenkurt einen Teil seiner Ländereien zur Verfügung stellte, um darauf Baracken für die Vertriebenen zu bauen - das war die Geburtsstunde der "Schlesiersiedlung" von Klein Söfingen, in der heute allerdings keine Baracken mehr stehen, sondern anständige Einfamilienhäuser, jedes mit einem kleinen Gemüsegarten. -- Bauer Ottenkurt, der aus der evangelischen Kirche ausgetreten war, erlaubte dem Geistlichen Rat Knipp sogar, in einer ungenutzten Scheune seines Hofes die Heilige Messe zu feiern. Vermutlich wollte er damit vor allem den evangelischen Pastor ärgern, aber das brauchte die Schlesier nicht zu kümmern. Für sie schien es damals - sehr zur Verblüffung der Einheimischen - das Wichtigste auf der Welt zu sein, sonntags die Heilige Messe feiern zu können; sogar wichtiger als Essen und Trinken. (Heutzutage ist das, wie Pfarrer Wagener jeden Sonntag aufs Neue feststellen kann, nicht mehr ganz so.) 

Der umtriebige Geistliche Rat Knipp und der bärbeißige Bauer Ottenkurt waren zwei Männer, die sich gesucht und gefunden zu haben schienen. Ob es stimmt, dass Ottenkurt sich noch auf dem Sterbebett zum Katholizismus bekehrt und von Knipp die Sakramente gespendet bekommen hat, darüber sind die Meinungen bis heute sehr geteilt; sicher ist aber, dass sie enge Freunde wurden und einander halfen, wo sie konnten. Als Anfang der fünfziger Jahre die Brunnen-Schenke, eine noch aus dem 19. Jahrhundert stammende Gastwirtschaft in Klein Söfingen, abbrannte, der 1905 angebaute Tanzsaal aber stehen blieb, setzte Bauer Ottenkurt sich dafür ein, dass der Geistliche Rat Knipp den Saal für seine katholische Gemeinde erwerben konnte, und einige Jahre später wurde der Bau zur Kirche Maria Himmelskönigin geweiht. 

Martin Wagener ist erst der vierte Nachfolger des Geistlichen Rats Knipp. Alle seine Vorgänger sind hier alt geworden, und Wagener stellt sich gern vor, wie sie in ihrer wohl damals schon knapp bemessenen freien Zeit am Schreibtisch des Pfarrhauses mit Blick auf die Schafweide gesessen und im wahrsten Sinne des Wortes Schäfchen gezählt haben. Bestimmt hat jeder von ihnen ein Geistliches Tagebuch voller erbaulicher Betrachtungen über das Landleben geführt. Irgendwo, denkt er, müssen diese Tagebücher doch noch im Hause sein, aber in vier Jahren hat er sie nicht auffinden können. Vielleicht gibt es sie also auch gar nicht. 

Die Türglocke reißt Pfarrer Wagener aus seinen Gedanken, und vor seinem geistigen Auge sieht er den erhofften freien Tag in Rauch aufgehen. Theoretisch könnte es zwar auch bloß der Paketbote sein, der da läutet, aber nein, so viel Glück hat er nicht. Vor der Tür steht Jette, die alte Hauswirtschafterin des benachbarten Bauernhofs von Karsten Klausmüller. Sie ist sichtlich aufgeregt. 
"Herr P'stoor", sagt sie hastig, und Martin Wagener verzichtet darauf, zu betonen, dass seine Amtsbezeichnung korrekt 'Pfarrer' laute. Das ist den Leuten hier nicht beizubringen. "Herr P'stoor, Se müssen zu uns auf den Hof kommen, schnell. Es is ein Notfall." 

Ein Diener Gottes ist immer im Dienst, denkt Pfarrer Wagener mit einer eigentümlichen Mischung aus Resignation und Stolz. Ein rascher Blick in den Spiegel, um das Kollar zu richten; dann holt er den Notfallkoffer aus seinem Arbeitszimmer, wirft sich eine Jacke über, und schon ist er bereit. Er macht sich nicht erst die Mühe, das Fahrrad oder gar das Auto aus der Garage zu holen: Karsten Klausmüllers Hof beginnt gleich jenseits der Schafweide, und auch wenn er außen herum geht, ist es nur ein Fußweg von wenigen Minuten.
Es ist der ehemalige Ottenkurt-Hof, aber jetzt gehört nur noch ein kleiner Teil seiner ehemaligen Ländereien dazu. Dass der alte Ottenkurt anno '46 so bereitwillig Land an die Gemeinde abtrat, damit dort eine Barackensiedlung für die Vertriebenen errichtet werden konnte, hatte wohl auch damit zu tun, dass der Hof schon damals weitgehend heruntergewirtschaftet war und Ottenkurt keinen Erben hatte. Den Großteil des Besitzes haben sich nach seinem Tod die Noltes und die Boltes unter den Nagel gerissen, das Hofgebäude, die Stallungen und ein Stück Kartoffelacker hingegen haben die Klausmüllers übernommen, entfernte Verwandte Ottenkurts. Auf diesem kleinen Resthof betreibt Karsten Klausmüller jetzt Bio-Landwirtschaft. 

Martin Wagener ist etwas irritiert, als die alte Jette ihn nicht ins Wohngebäude des Hofes führt, sondern in den Schweinestall. Dort steht der Bauer, Karsten Klausmüller, angespannt und unbeweglich, einen sorgenvollen Blick auf eine trächtige Sau geheftet, die auf der Seite liegt und erbarmungswürdig schnauft. Auf den Gruß des Pfarrers hin erwacht der Bauer aus seiner Erstarrung. "Herr P'stoor, Gottseidank, dat Se da sünd." 
"Was kann ich für Sie tun?", entgegnet Pfarrer Wagener sachlich. 
Karsten Klausmüller bemüht sich, Hochdeutsch mit dem 'zugezogenen' Pfarrer zu sprechen, aber in der Erregung verfällt er doch immer wieder in sein gewohntes Platt zurück. Was Martin Wagener aus seinen Worten entnehmen kann, ist, dass Klausmüllers Zuchtsau Ferkel bekommen sollte, dass es nun aber Komplikationen gebe; anscheinend habe sich ein Ferkel quer gestellt. Nun hat der Bauer Angst, dass ihm seine Sau verreckt, und schlimmstenfalls die Ferkel gleich mit. 
Der Geistliche findet es nicht schwer einzusehen, dass für einen kleinen Bio-Bauern der Verlust einer Zuchtsau und womöglich auch noch eines ganzen Wurfs Ferkel eine Katastrophe wäre. Dennoch fragt er nüchtern: "Ist das nicht eher ein Fall für den Tierarzt?"
Der habe am anderen Ende der Gemeinde zu tun und könne nicht kommen, erklärt Klausmüller. "Und wenn de Veehdoktor nich hölpt, denn hölpt blots noch de P'stoor. Dat hebb ick vun min' Vadder un' min' Grootvadder lernt." 
"Und was erwarten Sie jetzt von mir?", fragt Wagener etwas beunruhigt. 
Ungeduldig, fast schon verärgert, als finde er diese Frage herzlich überflüssig, entgegnet der Bauer: Segnen solle er das Schwein. Für eine gute Geburt der Ferkel beten. 
Der Pfarrer ist einigermaßen erleichtert, aber einen Einwand hat er doch noch:"Sie sind doch gar nicht katholisch." Er meint es gar nicht unfreundlich, aber kaum hat er diese Worte ausgesprochen, da merkt er, dass sie gleichwohl so wirken könnten. 
Karsten Klausmüller scheint das jedoch gar nicht krumm zu nehmen. "Unsen evangelischen P'stoor mokt sowat nich' ", erklärt er. "De seggt, dat is Aberglauben." 

Der Pfarrer nickt und macht sich ohne weitere Umstände an die Arbeit. Er öffnet seinen Notfallkoffer, nimmt die violette Stola heraus, die zusammengefaltet gleich zuoberst liegt, und legt sie sich um den Hals, außerdem entnimmt er dem Koffer noch ein Buch und einen eigentümlich geformten Metallgegenstand, ein Taschenaspergill zum Verspritzen von Weihwasser. Er schlägt ein Kreuzzeichen über der schwer atmenden Sau, besprengt sie mit ein bisschen Weihwasser; dann weiß er erst einmal nicht weiter. Aber er hat ja sein Buch dabei. Er blättert kurz im Register... Segensgebete... Segensgebete für Vieh. Sieh an, da gibt's ja Einiges. Hat er nur bisher nie gebraucht, denn die Bauern hier sind ja alle nicht katholisch. Und in seiner südoldenburgischen Heimat ist er auch noch nie zu Fällen wie diesem gerufen worden. Da war er ja auch nur Kaplan. Komisch eigentlich, denkt er, dass Pastor Berens 'so etwas' prinzipiell 'nicht macht'. Wäre doch genau seine Zielgruppe. Er beschließt, er müsse sich mal erkundigen, ob die anderen evangelischen Pastoren im Einzugsbereich seiner Pfarrei das genauso handhaben. Da könnte ein gewisses missionarisches Potential schlummern. 

Kaum hat Pfarrer Wagener sein Gebet zu Ende gesprochen, da kommt schon das erste Ferkel aus dem Leib der Sau hervor - rosig, drall und kerngesund. Bauer Karsten Klausmüller schlägt dem Geistlichen so enthusiastisch auf die Schulter, dass ihm fast die Knie nachgeben. "Seh'n Se, Herr P'stoor, dat wirkt schon! - Nu mööt wi een Korn drinken." 
Als hätte sie nur auf dieses Kommando gewartet, bringt die alte Jette, die sich bisher respektvoll im Hintergrund gehalten hat, wie aus dem Nichts eine Flasche Korn und zwei Gläser herbei. Normalerweise trinkt Pfarrer Wagener so gut wie keinen Alkohol, abgesehen von dem Schluck Messwein viermal in der Woche und zu besonderen Festzeiten des Kirchenjahres etwas öfter. Aber es gibt eben Situationen, da kann man nicht gut nein sagen - und dies ist eindeutig eine solche, das wäre ihm auch ohne Karsten Klausmüllers Bekräftigung "Dat's Traditschoon!" klar genug gewesen. Also stürzt er todesmutig den Korn hinunter - und da kommt auch schon das zweite Ferkel, und ehe er sich's versieht, hat Klausmüller ihm das Schnapsglas wieder gefüllt. 
"Wie", fragt der Geistliche irritiert, "noch einen?" 
Na und ob!, bestätigt Bauer Klausmüller lachend: für jedes Ferkel einen, so sei es Brauch. Anderswo, so fügt er verschmitzt hinzu, werde sogar für jedes Bein und jedes Ringelschwänzchen ein Schnaps getrunken. 
Das macht also fünf Schnäpse pro Ferkel, rechnet Pfarrer Wagener nach und ist herzlich froh, dass hier nicht 'Anderswo' ist. 

Die Ferkel erblicken jetzt immer rascher hintereinander das Licht der Welt - drei, fünf, sieben, der Pfarrer kann gar nicht so schnell trinken, wie Klausmüller ihm nachschenken will. Immer wieder bedankt sich der Bauer bei ihm für seine Hilfe, umarmt ihn, halb lachend, halb weinend vor Glück. 
Schließlich liegen zwölf allerliebste Ferkelchen friedlich neben ihrer Mutter im Stroh. Der Schweinestall dreht sich vor Martin Wageners Augen, aber er rafft sich doch noch dazu auf, die Ferkelschar mit einem Kreuzzeichen zu segnen und mit ein paar Tröpfchen Weihwasser zu besprengen, ehe er das Taschenaspergill, das Gebetbuch und die Stola umständlich wieder in seinem Notfallkoffer verstaut. 

Es ist schon stockdunkel, als Pfarrer Wagener, schwer angetrunken, quer über die Schafweide seinem Pfarrhaus zuwankt. Wenn sich das herumspricht, denkt er, bin ich für die Leute hier nur noch der 'Schweinepriester'. Zumindest bei den Nichtkatholiken. Den Spitznamen werde ich doch nie wieder los. Dennoch ist er nicht unzufrieden. Dem Bischof wird er wohl lieber nicht davon berichten, aber er denkt doch mit einem Lächeln: Immerhin gibt es jetzt in dieser Gemeinde ein paar katholische Schweine mehr.



2 Kommentare:

  1. Ja, das sind wirklich fröhliche "Schweinachten"! Und was macht der Herr "P'stor" an "Schwostern"? Wenn die Grillsaison beginnt? ;-)
    Schöne Geschichte zum Vorlesen!

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