Dienstag, 6. Januar 2015

Türknauf statt Amoklauf

Die Klasse 6b des Gymnasiums Groß Söfingen drängt sich auf dem Flur vor ihrem Klassenraum und wartet auf ihren Lateinlehrer. Eigentlich hätte der Unterricht schon vor drei Minuten begonnen haben sollen, aber Lehrer Frank Bollenhagen ist noch nicht in Sicht. Ein paar Schüler freuen sich insgeheim darüber, dass die Lateinstunde heute etwas kürzer ausfallen wird, aber die meisten sind einfach genervt, dass sie auf dem Flur herumstehen müssen und nicht in ihren Klassenraum können. Über die Ferien sind die Klassenraumtüren nämlich mit Türknäufen anstelle von Türklinken nachgerüstet worden, sodass man sie von außen nicht mehr ohne einen Schlüssel öffnen kann. 

Ironischerweise ist genau das auch der Grund dafür, dass Lehrer Bollenhagen zu spät zum Unterricht kommt: Auf halbem Weg zum Klassenraum der 6b ist ihm aufgefallen, dass er seinen Schlüsselbund im Lehrerzimmer hat liegen lassen, und hat noch einmal umkehren müssen. 
Als offiziellen Grund dafür, dass die Klassenraumtüren neuerdings Knäufe statt Klinken haben müssen, hat die Schulleitung die Eindämmung von Amoklaufgefahr angegeben. Immerhin könne nun kein Unbefugter mehr während des Unterrichts von außen in die Klassenräume eindringen. Frank Bollenhagen findet diese Argumentation einigermaßen bizarr, auch wenn er zugeben muss, dass die Vorstellung eines Amokläufers, der erst brav an der Klassenraumtür anklopft, ehe er alle darin Befindlichen über den Haufen schießt, etwas Groteskes an sich hat. 

Das Gymnasium Groß Söfingen hat kürzlich sein 100jähriges Bestehen gefeiert, und manchmal hat Frank Bollenhagen das Gefühl, auch schon genauso lange hier zu unterrichten. Das heißt nicht, dass er sich alt fühlt - im Gegenteil, er ist gesund und fit und hat noch immer Spaß am Unterrichten. Aber an Tagen wie diesem kann er den Gedanken daran nicht unterdrücken, wie viel sich an dieser Schule verändert hat, seit er hier angefangen hat, damals, gleich nach dem Referendariat. Nicht nur, dass seine damaligen Kollegen inzwischen fast alle pensioniert sind und in den letzten paar Jahren so viele neue Lehrer an die Schule gekommen sind, dass Frank Bollenhagen sich kaum alle ihre Gesichter, geschweige denn ihre Namen merken kann. Nicht nur, dass das Gymnasium seit einigen Jahren nicht mehr erst mit der 7., sondern schon mit der 5. Klasse beginnt, sodass auf einen Schlag zwei volle Schülerjahrgänge zusätzlich an die Schule gekommen sind und Räume im ehemaligen Postamt angemietet werden mussten, weil die drei im Laufe der letzten hundert Jahre errichteten Gebäudetrakte nicht mehr genügend Unterrichtsräume hatten; oder dass Ganztagsunterricht eingeführt wurde, mit der Folge, dass die kleine Cafeteria des Gymnasiums zu einer regelrechten Mensa ausgebaut werden musste, damit die Schüler, die aus allen Teilen der Samtgemeinde kommen, an der Schule ein Mittagessen bekommen können (wenn auch ein schlechtes). Noch viel strapaziöser als all dies findet Frank Bollenhagen den Umstand, dass beinahe alljährlich die Schulordnung geändert wird - und jede Änderung scheint darauf abzuzielen, die Schüler immer mehr und noch mehr zu gängeln und zu drangsalieren. Und die Lehrer meistens gleich mit. Die Sache mit den Türknäufen ist da nur das jüngste Beispiel. Amoklaufgefahr, so ein Humbug.  

Es ist noch gar nicht so lange her, dass es den Schülern ab der 10. Klasse erlaubt war, in den Pausen in ihren Klassenräumen zu bleiben. Zwar gab es eigentlich keinen vernünftigen Grund für die Annahme, den Schülern könnte daran gelegen sein, ihre Pausen in den Klassenräumen zu verbringen; aber die Zehntklässler nutzten dieses Privileg trotzdem gern, einfach weil es ein Privileg war. In der 11. Klasse ließ der Reiz des In-den-Klassenräumen-Bleibens zumeist sehr rasch nach, denn nun wurde den Schülern ein neues Privileg zuteil: Sie durften in den Pausen rauchen. Allerdings nur auf einem speziellen Raucherschulhof, zu dem die Schüler der niedrigeren Klassenstufen keinen Zutritt hatten. Dieser Raucherschulhof ist inzwischen Geschichte. Das heißt, den Hof gibt es zwar noch, aber jetzt ist er kein Raucherschulhof mehr. Die runden, ehemals mit Sand gefüllten Betonelemente, um die sich die rauchenden Schüler zu versammeln und ihre Zigarettenkippen hineinzuwerfen pflegten, sind jetzt mit Blumen bepflanzt - hässlichen Blumen, wie Frank Bollenhagen findet, aber ihn fragt ja mal wieder keiner. Zugleich mit dem Raucherschulhof ist auch das Raucherlehrerzimmer abgeschafft worden. Das Zimmer gibt es natürlich noch, aber geraucht werden darf darin nicht mehr. Frank Bollenhagen hat zwar nie geraucht, aber trotzdem fehlt ihm etwas. Die alten Kollegen, die nicht nur genauso viel rauchten wie die Schriftsteller der Gruppe 47, sondern mit ihren Schnauzbärten und Cordsakkos auch genauso aussahen, sind aber größtenteils sowieso längst pensioniert, und die neuen Kollegen, besonders die, die frisch aus dem Referendariat kommen, sind zumeist Nichtraucher. Insofern besteht also im Grunde ohnehin kaum noch Bedarf für ein Raucherlehrerzimmer, aber Frank Bollenhagen findet, dass man es dann eigentlich auch nicht eigens hätte abschaffen müssen. 

Und nun also Türknäufe. Wegen Amoklaufgefahr. Vielleicht sollte man sich mal überlegen, denkt Frank Bollenhagen sarkastisch, ob es nicht eine effizientere Maßnahme zur Vermeidung von Amokläufen wäre, die Schüler und uns mit immer neuen sinnlosen Verboten zu verschonen. 

Ein vielstimmiges, überwiegend erleichtertes Raunen empfängt den Lehrer, als er seine wartende Klasse erreicht; ihm entgeht aber auch das leise Murren derjenigen nicht, die wohl insgeheim darauf gehofft haben, der Lateinunterricht würde heute ganz ausfallen. (Wahrscheinlich haben die ihre Hausaufgaben nicht gemacht, denkt er.) Er schließt die Tür auf, und während die Schüler ihre Plätze einnehmen, entschuldigt er sich für seine Verspätung und unterlässt es auch nicht, den Grund dafür anzugeben. 
"Ich finde, diese neuen Türknäufe sind eine ganz schön bekloppte Erfindung", murrt Noah-Pascal Nölting. Einige Mädchen kichern und werfen Noah-Pascal bewundernde Blicke zu, weil er es wagt, so etwas zu einem Lehrer zu sagen. 
"Da kann ich dir leider nicht widersprechen", erwidert Frank Bollenhagen lächelnd. Er empfindet von jeher eine gewisse Sympathie für aufsässige Schüler, wenngleich er sich sagen muss, dass es pädagogisch unklug wäre, sich das allzu deutlich anmerken zu lassen. 
Sofort schnellt Angelina Puvogels Finger in die Höhe, und als der Lehrer ihr mit einem leichten Zunicken das Wort erteilt, sprudelt es fast entrüstet aus ihr heraus: "Aber Frau Laarmann hat uns gesagt, das ist wegen der Amoklaufgefahr!" 
Carmelita Rössing, die neben Angelina sitzt, unterstützt diese Aussage mit eifrigem Nicken, wie sie es bei nahezu allem tut, was Angelina jemals sagt. 
Na klar, denkt Lehrer Bollenhagen und hat Mühe, nicht mit den Augen zu rollen. Linda Laarmann, die fleischgewordene Political Correctness des Kollegiums. Laut sagt er jedoch: "Ja, das stimmt. - Aber mal ehrlich, findet ihr diese Amoklauf-Angst nicht auch ein bisschen lächerlich?" 
Angelina wirkt beinahe schockiert. "Wieso denn lächerlich?", fragt sie verständnislos. "Es gab hier doch schon mal einen Amoklauf!" 
(Eifriges Nicken von Carmelita.) 
Irritiert runzelt der Lehrer die Stirn. "Was meinst du mit 'hier'?", fragt er. "Hier an der Schule?" 
(Angelina und Carmelita nicken stereo.) 
Frank Bollenhagen lässt seinen Blick durch den Klassenraum wandern, aber keiner der anderen Schüler, nicht einmal Noah-Pascal, widerspricht Angelina oder stellt die Frage, die der Lehrer folglich doch selbst stellen muss: 
"Wie kommt ihr denn auf sowas?" 
"Ja, wissen Sie das denn nicht?", fragt Angelina Puvogel, zunehmend fassungslos. "Es gibt doch sogar eine Gedenktafel mit den Namen der Toten. Im Altbau, neben dem Eingang zur Aula." 
Carmelita Rössing nickt immer eifriger, während Frank Bollenhagen ein paar Sekunden lang der Mund offen stehen bleibt, als ihm klar wird, wovon Angelina redet. An der angegebenen Stelle im Altbau hängt tatsächlich eine Gedenktafel mit den Namen von achtzehn Toten. Sie wurde erst kürzlich angebracht, im Rahmen der Hundertjahrfeier des Gymnasiums. Und über den achtzehn Namen prangt in handtellergroßen Lettern die Widmung: 

Zum Gedenken an unsere gefallenen ehemaligen Schüler
1939-1945. 

"Wisst ihr was?", sagt Lehrer Bollenhagen, als er sich wieder gefangen hat. "Packt eure Lateinbücher wieder ein. Wir machen heute mal ein bisschen Geschichtsunterricht." 



2 Kommentare:

  1. Ich mag den Herrn Bollenhagen. Schade, daß er mich nicht unterrichtet hat. Vielleicht wäre ich dann bis zum Abi auf der Schule geblieben.

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