Freitag, 16. Januar 2015

Ein Wolfsberater kommt -- Teil 2


[Fortsetzung von hier.]


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Freitagabend, 19 Uhr, im Rathaussaal von Groß Söfingen. Samtgemeindebürgermeister Bernd Boltemüller hat zu einer Informationsveranstaltung mit dem Wolfsberater Dr. Matthias Heilig aus Oldenburg geladen - und alle sind gekommen, die sich um ihren Viehbestand sorgen. Die größten Land- und Viehbesitzer sind da: Hademar Nolte aus Noltenkamp, Lüder Bolte aus Hohengössweiler, Udo Söfing von Hof Söfingen, Bernulf Rössing jr. von Gut Rössingen und natürlich Weigelt Schmidtjohann vom Finkenhof, neben ihm sein Sohn Hergen, der auf Finkenhof-Vorwerk für die Zeit üben darf, wenn sein Alter ihm endlich den großen Hof überlässt. Böse Zungen spotten schon seit Jahren, der alte Schmidtjohann habe seinen Sohn aufs Altenteil geschickt, statt selbst dorthin zu ziehen. - In sicherem Abstand von den Großbauern haben die Bio-Landwirte Platz genommen, allen voran Velten Müllerklaus aus Westermänningen, der im Samtgemeinderat Sprecher der 'Wählergruppe' ist, gleichzeitig für die Grünen im Kreistag sitzt und dem obendrein Ambitionen auf ein Landtagsmandat nachgesagt werden; neben ihm sitzt Karsten Klausmüller aus Klein Söfingen, und etwas weiter hinten Eilert Schmidtjohann, der Verlorene Sohn, mit seinem Schwiegervater Edo Lintern, der mitgekommen ist, obwohl er gar keine eigene Bauerei mehr betreibt. Einen weiteren geschlossenen Block in den Zuschauerreihen bilden die fünf Gemeindeschäfer. 

Dass gerade der erzkonservative Weigelt Schmidtjohann sich dafür stark gemacht hat, einen Wolfsberater kommen zu lassen, hat alle überrascht - am meisten wohl Velten Müllerklaus, seinen ewigen Kontrahenten im Samtgemeinderat. Von der Sache her hat er zwar weder anders gewollt noch anders gekonnt, als den Antrag des alten Schmidtjohann zu unterstützen, aber gewurmt hat es ihn doch. Vor allem, dass er nicht zuerst auf diese Idee gekommen ist. Dass sie nun gezwungenermaßen an einem Strang ziehen, weckt bei manch Einem Erinnerungen an die Zeit, als 'Unabhängige' und 'Wählergruppe' noch nicht voneinander getrennt und prinzipiell miteinander verfeindet waren, sondern noch 'Unabhängige Wählergruppe' hießen und bei den Wahlen zum Samtgemeinderat Mehrheiten von nah an hundert Prozent erzielten. Auch das gefällt Velten Müllerklaus nicht, es widerspricht seinem Demokratieverständnis. Dass es Eilert Schmidtjohann war, der seinen Vater auf die Idee mit dem Wolfsberater gebracht hat, ahnt Velten nicht, und Eilert wird sich hüten, das an die große Glocke zu hängen. Velten könnte es ihm übel nehmen, und schließlich sind die wenigen Bio-Bauern der Samtgemeinde auf gute Zusammenarbeit angewiesen. Und sie verstehen sich ja sonst auch wirklich gut. Aber Blut ist eben doch dicker als Wasser - findet zumindest Eilert. 

Die wirkungsvollste Werbung für diese Veranstaltung hat letztlich aber doch der Wolf selbst gemacht. Erst vor zwei Tagen sind auf der Gimmertener Schafweide die traurigen Überreste zweier Schafe gefunden worden - kaum mehr als Wolle und Knochen war von ihnen übrig, und ein drittes Schaf war im Teich ertrunken. Der Gimmertener Gemeindeschäfer ist immer noch etwas blass, er soll abends im Dorfkrug bereits davon gesprochen haben, er überlege, seinen Beruf an den Nagel zu hängen. Inzwischen hat Dr. Heilig, der Wolfsberater, den Schauplatz dieses Dramas besichtigt, um Spuren zu sichern, und hat bestätigt, der erste Eindruck deute tatsächlich stark auf einen Wolf hin. Der erste Eindruck genüge jedoch noch nicht, um vom Land Niedersachsen Entschädigung zu bekommen. 

Beim Stichwort 'Entschädigung' sind die Bauern und die Schäfer natürlich hellhörig geworden, besonders die, die bisher noch gezweifelt hatten, was ein Wolfsberater aus der Stadt ihnen eigentlich nützen soll. Nun sind sie begierig, Genaueres zu erfahren. -- der Wolfsberater ist ein kleiner, dünner Mann mit einem bis auf die Brust reichenden Vollbart und trägt einen Rollkragenpullover unter einem nicht mehr ganz neuen Sportsakko, dazu eine randlose Brille. An seiner Hand glänzt auffällig ein Ehering, und das allein würde den versammelten Bauern schon genügen, in ihm einen typischen Städter zu erkennen. Sie selbst tragen ihre Eheringe, sofern sie verheiratet sind, nur sonntags, da sonst die Gefahr zu groß wäre, sie bei der Arbeit zu verlieren. Er wirkt etwas nervös, während er seinen Laptop mit dem selten genutzten Videobeamer des Rathaussaals verbindet; vielleicht macht die Technik ihm zu schaffen, aber vielleicht schüchtern ihn auch die vierschrötigen Bauerrngestalten ein, die allmählich ungeduldig mit den Hufen zu scharren beginnen. Um die Zeit zu überbrücken, bis Dr. Heilig seine Technik zurechtgefummelt hat, tritt erst einmal Samtgemeindebürgermeister Bernd Boltemüller ans Mikrofon und hält eine kleine Begrüßungsansprache. 

Wie sein Name verrät, stammt der Bürgermeister aus einer Familie, die bis vor ein paar Generationen die zum Besitz der Boltes gehörende Mühle in Niedergössweiler in Pacht hatte. Die Mühle beherbergt heute ein Museum und gehört der Gemeinde Gössweiler, trägt aber immer noch den Namen Boltemühle. Zum Bürgermeister hat Bernd Boltemüller es vor allem deshalb gebracht, weil er keiner der großen Familien und keiner der heftig zerstrittenen politischen Richtungen angehört, weder besonders konservativ noch besonders fortschrittlich ist und somit praktisch keine Feinde hat. Andererseits hatten die Bauern aus denselben Gründen auch noch nie besonders großen Respekt vor ihm, und seit es sich herumgesprochen hat, wie er einmal spät abends halb nackt über den Balkon aus dem Schlafzimmer seiner Geliebten geflüchtet ist, weil ihr Ehemann unerwartet nach Hause kam, ist es damit ganz vorbei. Dass seine Begrüßungsansprache keiner großen Aufmerksamkeit gewürdigt wird, liegt aber wohl nicht nur daran. Schließlich sind die anwesenden Bauern und Schäfer nicht seinetwegen hier, sondern weil sie hören wollen, was der Wolfsberater ihnen zu sagen hat. 

Dieser ist inzwischen endlich so weit, seine PowerPoint-Präsentation zu starten. Als erstes erscheint auf der Leinwand eine Art Titelblatt, mit Datum und Ort der Veranstaltung, dem Namen des Referenten und der leicht provokanten Überschrift "Wer hat Angst vorm bösen Wolf?". Dem Publikum scheint die darin enthaltene ironische Spitze jedoch zu entgehen. 
-- Nach einigen einführenden Worten, die den versammelten Bauern und Schäfern im Grunde nichts verraten, was sie nicht schon vom Bürgermeister gehört hätten, drückt der Referent eine Taste seines Laptops, und anstelle des Titelblatts erscheint ein Foto auf der Leinwand: Es zeigt einen Jäger, der stolz neben dem an den Hinterläufen aufgehängten Kadaver eines erlegten Wolfs posiert. 
"Hier sehen Sie eines der gefährlichsten Raubtiere unseres Planeten", erklärt Dr. Heilig. "Jedes Jahr tötet oder verstümmelt es weltweit unzählige andere Lebewesen." Nach einer bedeutungsschweren Pause fügt er hinzu: "Rechts daneben sehen Sie einen gesetzeswidrig umgebrachten Wolf." 

Eine peinliche Stille breitet sich im Saal aus. Eilert Schmidtjohann hält sich die Hände vors Gesicht und zählt leise: einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig... So lange dauert es, bis der 'induktive Einstieg' des Referenten in die Hirne der Anwesenden eingesickert ist, und nun bricht der Tumult los. Lautes Murren, Buh-Rufe und Pfiffe erfüllen den Saal; den Gemeindeschäfer von Gimmerten hält es nicht mehr auf seinem Sitz, er springt auf, bebend vor Zorn, und beschimpft den Wolfsberater unflätig, bis seine eigenen Kollegen ihn an den Schultern packen und auf seinen Stuhl niederzwingen. Dem Bürgermeister steht angesichts dieser Eskalation die Panik ins Gesicht geschrieben, während der Wolfsberater seltsam ungerührt scheint - ja, er wirkt sogar gelassener als vor dem Beginn seines Vortrags. 

Im allgemeinen Durcheinander sieht nun Velten Müllerklaus seine Stunde gekommen. Er erhebt sich von seinem Platz und stellt sich mit ausgebreiteten Armen vor den Referenten und den angstschweißtriefenden Bürgermeister. Ein Marc Anton in Latzhose und Gummistiefeln. Freunde, Römer, Mitbauern. Mit wenigen staatsmännischen Sätzen, um die der Bürgermeister ihn beneiden müsste, wenn er sie vor lauter Kopflosigkeit überhaupt richtig mitbekäme, gelingt es ihm, die Veranstaltungsbesucher so halbwegs zur Ruhe zu bringen. Sie sollten sich doch erst einmal anhören, was der Wolfsberater zu sagen habe, sagt er - dazu seien sie schließlich hier. 

Dr. Heilig hat derweil die nächste Folie seiner Präsentation aufgerufen: eine Landkarte Niedersachsens, auf der die Orte eingezeichnet sind, an denen in den letzten Jahren nachgewiesenermaßen Wölfe aufgetaucht sind - garniert mit bunten Kreisdiagrammen, die die Schäden illustrieren, die durch die Wölfe verursacht wurden. Links unten im Vordergrund ist die leicht stilisierte Zeichnung eines heulenden Wolfs zu sehen. 
"Der Wolf", doziert Dr. Heilig, "hat in unserem Land seit Jahrtausenden seinen natürlichen Lebensraum gehabt - mindestens so lange wie der Mensch. Extensive Landwirtschaft und eine übertriebene Angst des Menschen vor der Gefährlichkeit des Wolfs haben seit dem 19. Jahrhundert dazu geführt, dass der Wolf in Deutschland praktisch ausgerottet wurde. Seit einigen Jahren gibt es hier jetzt wieder Wölfe. Das ist zunächst einmal eine gute Nachricht." 

Erneute Unmutsäußerungen unterbrechen den Vortrag, und Velten Müllerklaus steht erkennbar schon wieder in den Startlöchern, um erneut beschwichtigend einzugreifen. Hademar Nolte aus Noltenkamp fragt den Referenten gereizt: "Was für eine Art von Doktor sind Sie eigentlich?" 
Die Frage ist nun zugegebenermaßen etwas peinlich. So ein Doktortitel macht sich gut auf der Visitenkarte, und im Fall von Dr. Matthias Heilig ist er sogar echt - hat aber nichts mit seiner Tätigkeit als Wolfsberater zu tun. Lange bevor er sich im Wolfcenter in Dörverden zum Wolfsberater hat ausbilden lassen, hat Matthias Heilig Stadtplanung studiert und eine Dissertation über Abwasserwirtschaft verfasst. 
Ein erneuter Zwischenruf überhebt den Referenten einer Antwort: "Ich will jetzt mal wissen, wie das mit der Entschädigung ist", wirft Bernulf Rössing jr. vergleichsweise sachlich ein. Dr. Heilig seufzt; er hätte es zweifellos vorgezogen, sich an sein vorbereitetes Konzept zu halten, sieht aber wohl allmählich ein, dass es zwecklos ist. "Das Land Niedersachsen", erklärt er gemessen, "zahlt Entschädigungen für alle Schäden, die den Landwirten durch Wölfe zugefügt werden - vorausgesetzt, es lässt sich nachweisen, dass wirklich Wölfe für diese Schäden verantwortlich sind. Dieser Nachweis wird in der Regel durch DNA-Tests erbracht." 
"Und wenn es sich nicht nachweisen lässt?", fragt der Gemeindeschäfer von Gimmerten und denkt dabei wohl an sein im Teich ertrunkenes Schaf. 
Der Wolfsberater zuckt mitleidig mit den Achseln. 
Nun meldet sich, zur allgemeinen Verblüffung, Hergen Schmidtjohann zu Wort. "Entschädigung ist ja gut und schön", murrt er. "Ein Schaf oder eine Kuh kann das Land uns wohl ersetzen - aber was ist, wenn der Wolf eins unserer Kinder frisst?" 
Offenbar gegen seinen Willen stößt der Wolfsberater ein spitzes Gelächter aus, und auch einige der älteren Bauern lachen. Natürlich betrachten auch sie den Wolf als eine reale Bedrohung, sonst wären sie nicht hier; aber Hergen Schmidtjohann hat als Kind wohl einmal zu oft Rotkäppchen vorgelesen bekommen. 

Noch ehe die Versammlung sich wieder beruhigt hat, erhebt sich der alte Schmidtjohann von seinem Sitz, schüttelte gravitätisch den Kopf und verlässt schweigend und mit seinen charakteristischen, betont behäbigen Schritten, die Fäuste tief in den Jackentaschen, den Saal. Das versetzt die Anwesenden in noch größere Unruhe als alles Vorangegangene; auch der Referent wirkt zunächst irritiert, aber dann greift er den Faden seines Vortrags wieder auf, als wäre nichts geschehen. Eilert Schmidtjohann flüstert seinem Schwiegervater Edo Lintern ein paar Worte zu, dann folgt er seinem Vater nach draußen. 

Dieser stopft sich gerade gemütlich seine Pfeife, als Eilert mit fragendem Blick auf ihn zugeht. "Kasperletheater da drinnen", brummt der Alte knapp und reißt sich ein Streichholz an. "Mit deinem Doktor Heilig als Kasper, Bernd Boltemüller als Seppel, Hergen als Gretel und dem Wolf als Krokodil. Aber ich bin nicht die Großmutter, der die Kaffeemühle geklaut wurde!" 
"Und was heißt das jetzt?", fragt Eilert besorgt. 
"Dass dein Doktor Heilig als Wolfsberater 'ne Fehlbesetzung ist, das heißt das!", schnaubt Weigelt Schmidtjohann. "Dabei hätte er eigentlich was Sinnvolles zu sagen, wenn er sich nicht damit aufhalten würde, die Landleute vor den Kopf zu stoßen." 
Eilert sieht seinen Vater verwirrt an. "Und woher weißt du das?" 
Mit einem breiten Grinsen, das seine spitzen, verfärbten Zähne entblößt, zieht der Alte ein zusammengerolltes Bündel Papiere aus der Innentasche seiner Allwetterjacke. "Hab mir den ganzen Sermon gestern schon schriftlich geben lassen", erklärt er. "Vorträge anzuhören ist nicht so mein Fall, wie du weißt. Bin heute eigentlich nur hier, um -" er unterbricht sich mit einem Geräusch, das wie ein Gemisch aus Lachen und Husten klingt - "'Präsenz zu zeigen', wie Velten Müllerklaus das nennen würde. - Sieh man zu, dass dir nicht das Gesicht aus dem Kopf fällt", fügt er hinzu und boxt seinem Ältesten, der vor Verblüffung Mund und Augen aufsperrt, kameradschaftlich auf die Brust. "Un' holl din' olen Vadder man nich' för dösiger, as he is'." Er lacht laut, und Eilert lässt sich davon anstecken. 

"Aber im Ernst", fährt der Alte fort und schlägt mit dem Handrücken gegen das zusammengerollte Vortragsmanuskript. "Da stehen ein paar ganz vernünftige Vorschläge drin, was man gegen Wölfe tun kann. Elektrozäune ziehen, speziell abgerichtete Hütehunde anschaffen. Das bietet alles keinen hundertprozentigen Schutz, aber das ist auch gar nicht nötig. Es reicht schon, es dem Wolf ein bisschen schwerer zu machen, dann geht er woanders hin." 
Eilert nickt beeindruckt, und der Alte zieht behaglich an seiner Pfeife. "Weißt du was? - Vielleicht lass ich mich selber in Dörverden zum Wolfsberater ausbilden, wenn ich die Landwirtschaft mal drangebe. Ich könnte das bestimmt besser als dieser komische Suppenkasper Doktor Heilig. Und wenn auch nur, weil ich verstehe, wie unsere Landleute ticken." 

Und wie Wölfe ticken, verstehst du auch, denkt Eilert. Und er denkt es nicht nur anerkennend, sondern sogar beinahe zärtlich. 



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