Dienstag, 9. Dezember 2014

Denkt euch, ich habe das Rentier gekillt

Preisfrage: Wer trägt mehr zur Regulierung des Wildbestandes bei - die Jäger oder die Autofahrer?

Auf Niedersachsens Straßen und Bahngleisen werden pro Jahr 28.000 Rehe totgefahren, und von Jahr zu Jahr werden es tausend mehr. Dazu kommen rund 150 Rothirsche, knapp tausend Damhirsche und eineinhalbtausend Wildschweine. Und das sind wohlgemerkt nur die gemeldeten Wildunfälle. -- Ich weiß, ich weiß: Wildunfälle müssen gemeldet werden. Theoretisch. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass beispielsweise bei den Rössings in Achternbeek von Zeit zu Zeit mal ein unregistrierter, mit Opa Rössings rotzgrünem 70er-Jahre-Mercedes erlegter Rehbraten auf den Tisch kommt. Besonders zu Weihnachten. Die haben ja sonst nichts. 

Bei ihren wohlhabenden entfernten Verwandten, den Rössings auf Gut Rössingen, gibt es ebenfalls Wild zu Weihnachten - mal Reh, mal Schwein, auf jeden Fall aber ohne Reifenspuren. Bernulf Rössing jr. ist zwar, im Gegensatz zu seinem verstorbenen Vater, ein miserabler Jäger und hat eigentlich auch gar keine Freude an diesem blutigen Handwerk, aber einmal im Jahr muss er da durch - das erwartet seine Mutter von ihm. Weihnachten hat was Selbstgeschossenes auf den Tisch zu kommen, das ist Familientradition. Also geht Bernulf Rössing jr. alle Jahre wieder mehr oder minder widerwillig auf die Pirsch. Wenn ihm nichts Anständiges vor die Flinte kommt, kauft er seinem Skatbruder Weigelt Schmidtjohann, der regelmäßig weit mehr Wild zur Strecke bringt, als seine Familie essen kann, ein Reh oder eine Wildsau ab - aber heimlich, seine Mutter darf nichts davon erfahren. Die Schmidtjohanns gehören zwar zu den reichsten Bauern der Samtgemeinde, aber sie sind keine alte Bauernfamilie. Vor drei Generationen oder so waren sie noch Schmiede, daher auch der Name. Aus Sicht einer Bertha Rössing, geborene Nolte, sind sie damit Emporkömmlinge. Man muss sich, schon im eigenen Interesse, einigermaßen gut mit ihnen stellen, darf sie aber nicht als ebenbürtig anerkennen. Beispielhaft auf den Punkt gebracht: Zum Neujahrsempfang auf Gut Rössingen werden die Schmidtjohanns eingeladen, aber würde Weigelt Schmidtjohann sich dazu versteigen, auf seinem Finkenhof selbst einen Neujahrsempfang zu geben, ginge Bertha Rössing, geborene Nolte, selbstverständlich nicht hin. -- Aus demselben Grunde wäre es eine Schmach für sie, anerkennen zu müssen, dass Weigelt Schmidtjohann ein besserer Jäger ist als ihr eigener Sohn. Dass vermutlich selbst Opa Rössing aus Achternbeek am Steuer seines rotzgrünen 70er-Jahre-Mercedes ein besserer Jäger ist als Bernulf jr., steht auf einem anderen Blatt. Die passionierten Jäger der Samtgemeinde spotten an ihrem Stammtisch gern, Bernulf jr. wäre mit der von seinem Alten Herrn geerbten Jagdflinte bestenfalls im Stande, auf dreißig Schritt Entfernung den Kirchturm von Dorf Rössingen zu treffen; aber immerhin sind sie loyal genug, dass sie das der alten Bertha nicht verraten.

Da das diesjährige Weihnachtsfest näher rückt, aber immer noch kein Festtagsbraten in der Rössingschen Gefriertruhe schlummert, hat sich Bernulf Rössing jr. wieder einmal mit Weigelt Schmidtjohann zu einem gemeinsamen Jagdausflug ins Gimmertener Holz verabredet. Weigelt hat zwar gewitzelt, bessere Aussichten hätten sie, wenn sie sich an einem Wildwechsel an der Landesstraße nach Diepholz postierten, aber Bernulf hat schließlich auch seinen Stolz.

Und nun sitzen sie in der Dämmerung mit ihren Gewehren auf Weigelts bevorzugtem Hochsitz im Gimmerter Holz und warten. Weigelt schmaucht dabei behaglich seine kurze krumme Pfeife und spricht kaum alle halbe Stunde einmal ein Wort; Bernulf denkt, dass Jagen so ähnlich sei wie Angeln, nur auf dem Trockenen. Im Angeln ist er allerdings ähnlich erfolglos, und es macht ihm auch genauso wenig Spaß.

Auf einmal regt sich etwas im Gehölz, und Bernulf ist auf einen Schlag hellwach. Kaum zeigt sich ein von einem Geweih gekrönter Tierkopf zwischen den Bäumen, da hat er schon das Gewehr im Anschlag.
Weigelt hat keine Chance, ihn zurückzuhalten. "War-", beginnt er, aber die zweite Silbe "-te" wird von Bernulfs Schuss übertönt.
Es ist schwer zu sagen, welcher der beiden Männer überraschter ist, als das Tier, das so unvorsichtig seinen Kopf zwischen den Bäumen hervorgestreckt hat, tatsächlich leblos zusammenbricht.
"Beachtlicher Schuss", brummt Weigelt anerkennend und erhebt sich gemächlich von seinem Sitz. "Dann wollen wir uns den Kawenzmann mal näher ansehen."

Obwohl Weigelt Schmidtjohann bekannt dafür ist, sich mit einer Behäbigkeit zu bewegen, als halte er Eile für unter seiner Würde, ist er schon vom Hochsitz herunter und bei dem toten Tier angekommen, ehe Bernulf, dem vor Erregung über sein Jagdglück die Knie zittern, die unterste Sprosse der Leiter erreicht hat.
"Ein Blattschuss wie aus dem Lehrbuch!", ruft Weigelt ihm entgegen. "Hätte ich nicht besser gekommt. Aber schau dir mal an, was für ein seltenes Wild du da erlegt hast!"

Bernulf traut seinen Augen nicht, als er endlich seine Jagdbeute erreicht hat. Was da tot vor ihm liegt, ist ohne jeden Zweifel ein Esel, dem man mit Hilfe eines knallroten Zaumzeugs ein künstliches Rentiergeweih auf dem Kopf befestigt hat.

"Der muss aus dem Wanderzirkus ausgebüxt sein, der in Gimmerten gastiert", bemerkt Weigelt trocken. "Die Zirkusleute scheinen ihre Tiere schlecht zu füttern, sonst wäre der Esel wohl geblieben, wo er hingehört."
Bernulf antwortet nicht. Er steht nur zitternd da und wird abwechselnd rot und blass.
"Nun mach dir mal keine Sorgen", beschwichtigt ihn Weigelt und schlägt ihm jovial auf die Schulter, woraufhin Bernulf nur noch mehr zittert. "Morgen früh fahre ich zu den Zirkusleuten und bezahle ihnen ihren Esel - obwohl sie eigentlich selbst schuld sind, wenn sie ihn ausreißen lassen, aber was soll's. Vielleicht lasse ich ihn ausstopfen und schenke ihn meinen Enkelkindern. Und du kannst für dein Weihnachtsessen wieder einen Rehbraten von mir bekommen. Bei mir gibt's dieses Jahr Wildschweinbratwürste."

Da Bernulf immer noch nicht antwortet, blickt Weigelt auf und muss laut lachen, als er den verstörten Gesichtsausdruck seines Kameraden sieht. "Du kannst dich natürlich auch als Polizeikontrolle ausgeben", spottet er, "und Opa Rössing aus Achternbeek auf dem Heimweg vom Möhlenbeeker Dorfkrug abfangen. Vielleicht hat er was Schönes für dich im Kofferraum."



[Inspirationsquellen: siehe hier... und hier!

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